In den kürzlich von russischen Truppen befreiten Gebieten hat die ukrainische Polizei eigenen Angaben zufolge mehrere Folterstätten gefunden.
»Nach Balaklija oder Isjum kommend sehen wir eine riesige Zahl von Verbrechen, die an der Zivilbevölkerung verübt wurden«, sagte Polizeichef Ihor Klymenko laut einer Mitteilung. Es seien zehn Folterkammern entdeckt worden.
In der Stadt Balaklija seien während der russischen Besatzung bis zu 40 Menschen in der örtlichen Polizeistation festgehalten, erniedrigt und gefoltert worden, sagte Klymenko. »Es gab Folter, wir haben an den Händen der Leute Spuren von nackten Elektrodrähten gesehen, durch die bei Verhören Strom geschickt wurde.« Es seien auch Hämmer und Schlingen gefunden worden. Seinen Worten zufolge gab es in Isjum noch sechs weitere Folterorte, die aber komplett zerstört worden seien.
Folterspuren an Leichen entdeckt
Zuvor hatte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von Folterspuren an den entdeckten Leichen in Isjum gesprochen. »Das muss die ganze Welt sehen«, teilte das Staatsoberhaupt in sozialen Netzwerken mit. Angaben zur Art der Funde machte er nicht. Dem Internetsender Hromadske zufolge waren bei 3 von 40 exhumierten Leichen die Hände gefesselt. Selenskyj teilte zudem Fotos der Arbeiten bei einer Gräberstätte in einem Waldstück bei der ostukrainischen Kleinstadt.
Unter den mehr als 400 gefundenen Leichen seien auch Opfer von Raketenangriffen sowie Kinder und ukrainische Soldaten. »Russland lässt nur Tod und Leiden zurück. Mörder und Henker, die alles Menschliche verloren haben«, schrieb Selenskyj. Für jedes Opfer werde Vergeltung geübt, kündigte er an. Selenskyj sprach von den gefundenen Leichen in Isjum von einem »Massengrab«. Nach weiteren Leichen werde gesucht.
Minen erschweren Suche nach weiteren Leichen
Die Suche werde durch Minen erschwert, sagte der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko der Agentur Unian zufolge. Dennoch werde jede Anstrengung unternommen - insbesondere auch, um die Körper gefallener Soldaten an ihre Familien übergeben zu können: »Wir setzen die Arbeit fort (...), damit die Familien die Soldaten, die für die Ukraine gestorben sind, so schnell wie möglich angemessen ehren können«, sagte Kotenko.
Die US-Regierung bezeichnete die Leichenfunde in Isjum als »abscheulich«. »Es passt leider zu der Art von Verdorbenheit und Brutalität, mit der die russischen Streitkräfte diesen Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk führen«, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Freitag. »Es ist absolut verdorben und brutal.«
Isjum wohl kein neues Butscha
Bei den Leichenfunden in der befreiten ostukrainischen Kleinstadt Isjum handelt es sich Aussagen des ukrainischen Vermisstenbeauftragten zufolge nicht um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber. »Ich möchte das nicht Butscha nennen - hier wurden die Menschen, sagen wir mal, zivilisierter beigesetzt«, sagte Oleh Kotenko dem TV-Sender Nastojaschtschee Wremja.
Ende März waren in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg.
Die Menschen in Isjum wiederum seien wohl gestorben, als Russlands Truppen die Stadt im Zuge der Eroberung Ende März heftig beschossen hätten, sagte Kotenko. »Die Mehrzahl starb unter Beschuss, wir haben das den Daten nach bereits verstanden: Die Menschen kamen um, als sie (die Russen) die Stadt mit Artillerie beschossen«, sagte Kotenko. Die Bestattungsdienste hätten zum Teil nicht gewusst, wer die vielen toten Menschen seien. Deshalb stünden auf einigen Kreuzen nur Nummern. Derzeit bemühten sich die Behörden, ein Register mit den Fundorten der Leichen zu finden.
Das Untersuchungsteam des UN-Menschenrechtsbüros in Genf will Isjum so schnell wie möglich aufsuchen, wie eine Sprecherin in Genf sagte. Der Fund sei schockierend und die Todesursache jedes einzelnen Verstorbenen müsse untersucht werden.
Russische Truppen verlassen Gebiet fluchtartig
Die Russen hatten das Gebiet am Samstag ukrainischen Angaben zufolge nach einer Gegenoffensive der ukrainischen Kräfte fluchtartig verlassen. Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte von einer »Umgruppierung« seiner Truppen gesprochen, während selbst kremlnahe Quellen von einer verheerenden Niederlage sprachen. Selenskyj besuchte Isjum am Mittwoch.
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