8.01 Uhr zeigt die Aufnahme der Sicherheitskamera, gerichtet auf die Stadtverwaltung der zweitgrößten Stadt der Ukraine, Charkiw.
Vor und neben dem gelb gestrichenen, fünfstöckigen Gebäude fahren gerade vier Autos - als plötzlich aus dem Nichts eine Rakete einschlägt. Ein riesiger Feuerball steigt auf, Teile fliegen durch die Luft. »Was für ein Wahnsinn«, kommentieren Ukrainer in sozialen Medien die Szene.
Ausgerechnet Charkiw, schreiben sie - die Stadt an der russischen Grenze, in der praktisch jeder Verwandte oder enge Freunde in Russland hat. Für Beobachter ist es ein weiteres Zeichen, dass Präsident Wladimir Putin begonnen hat, noch brutalere Taktiken anzuwenden.
Denn eines wird immer offensichtlicher: Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine am Donnerstag ist eine schnelle Eroberung des Landes mit anschließender Kapitulation gescheitert. Alle großen Städte stehen weiter unter ukrainischer Kontrolle.
Dem Verteidigungsministerium in Kiew zufolge kamen bei den russischen Truppen innerhalb von fünf Tagen mehr als 5000 Soldaten ums Leben. 200 seien in Gefangenschaft geraten, sie werden gerne und oft in Videos gezeigt. Unabhängig überprüfen lassen sich aber weder Zahlen noch Videos. Auch nicht, dass die Ukraine 29 Flugzeuge und 29 Hubschrauber vom Himmel geholt und hunderte Panzer und Schützenpanzer zerstört haben will. Angaben zu eigenen Verlusten gibt es vonseiten des Militärs nicht.
Erster Vormarsch wohl gestoppt
Vor allem mit Einbruch der Dunkelheit greifen russische Einheiten mit ballistischen Raketen vornehmlich militärische Ziele bei den Großstädten an. Kiewer Angaben nach gab es am Dienstag eine Umgruppierung der russischen Truppen, die auf eine baldige zweite Welle von Vorstößen hindeute. Der Vormarsch aus dem Nordwesten von Kiew sei dabei vorerst in einer Entfernung von 15 bis 20 Kilometern gestoppt worden. Die aus dem Gebiet Tschernihiw von Nordosten heranrückenden Truppen bilden Satellitenaufnahmen zufolge eine über 60 Kilometer lange Kolonne. Tschernihiw sei dabei komplett eingekreist und alle Ausfahrten vermint.
Der bereits seit Tagen durch massiven Beschuss ausgesetzten Millionenstadt Charkiw, der auch Wohngegenden traf und bei denen knapp ein Dutzend Zivilisten getötet worden sein sollen, droht ebenfalls eine Blockade. Ein erster Vorstoß russischer Truppen in das Zentrum allerdings scheiterte.
Immerhin dürfte das Wetter den Ukrainern in die Hände spielen: Aufgrund der Wetterlage rechnet die Armeeführung demnächst nicht mit Landungsoperationen im Schwarzmeer-Gebiet. Alle russischen Landungseinheiten seien in ihren Basen auf der Krim. Doch die südukrainische Metropole Cherson an der Mündung des Flusses Dnipro ist örtlichen Berichten nach bereits komplett eingekesselt und steht kurz vor dem Sturm.
Im Südosten droht der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer bereits die komplette Einkreisung durch russische Truppen. Zivilisten wurde von russischer Seite für den Mittwoch ein Korridor zur Ausreise eingerichtet. Danach ist der Sturm der Stadt mit ursprünglich mehr als 400.000 Einwohnern zu erwarten. Bereits jetzt erschweren Beschuss und bedingte massive Stromausfälle das Leben. Im Anschluss könnte die komplette ukrainische Gruppierung in den Gebieten Donezk und Luhansk in einer Einschließungsoperation vom Rest des Landes und damit vom Nachschub abgeschnitten werden.
Kiew macht sich bereit
Hauptziel der Operation bleibt nach Einschätzung von Beobachtern allerdings die Hauptstadt Kiew. »Der Feind will das Herz unseres Landes erobern«, sagte Bürgermeister Vitali Klitschko in einer weiteren Videobotschaft an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt am Dienstag. Kiew verstärkt mit jedem Tag die Barrikaden, zuletzt vor allem an den Zufahrten. Auch in der Stadt selbst sind immer mehr Straßenkontrollen, Sandsäcke oder Panzersperren zu sehen, berichten Bewohner. Während manche Geschäfte geöffnet haben, sind einige leere Regale nicht auf ein Problem bei der Versorgung zurückzuführen: Die Stadtverwaltung hat den Verkauf von alkoholischen Getränken verboten.
Der Kiewer Pawlo Hansewytsch erzählt in Sprachnachrichten, dass er ganz angetan sei von dem »unglaublichen Schulterschluss« der Menschen in der Stadt. Die Armee und die Gebietsverteidigung würden von den Bürgern versorgt, alle hielten zusammen, um sie zu unterstützen. Aber auch in den Wohnhäusern rücke man zusammen. »Früher kannten wir unsere Nachbarn nicht, jetzt sind wir die engsten Freunde.« Er müsse nun aber los, Windeln suchen.
Während manche Beobachter davon ausgehen, dass es der ukrainischen Armee an bestimmten Waffen bereits fehlt, folgen immer mehr Bewohner des Landes dem Beispiel des Bürgermeisters von Dniprorudne. Jewhenij Matwjejew hatte am Sonntag mit unbewaffneten Bewohnern seiner Stadt russische Panzer dazu gebracht, umzukehren. Der Bürgermeister sagte der Deutschen Presse-Agentur, er habe die russischen Soldaten »mit einem Wort« demoralisiert. Welches das genau das gewesen sei wolle er erst preisgeben, wenn der Krieg vorbei ist.
In sozialen Medien kursierten Videos aus der Region Charkiw, wie eine Gruppe Jugendlicher mit ukrainischen Fahnen auf ein mit einem weißen »Z« markiertes Auto springt, um es aufzuhalten. Aufnahmen, die aus Berdjansk im Süden des Landes stammen sollen, zeigen hunderte Menschen, die vor der Stadtverwaltung stehenden russischen Truppen »Berdjansk - das ist Ukraine«, entgegenrufen. Auf einem weiteren Video stehen wieder Dutzende Ukrainer vor einer russischen Militärkolonne, angeführt von einem Panzer, und singen die ukrainische Nationalhymne.
In Charkiw begegneten Menschen dem Einschlag eines Geschosses in der Stadtverwaltung mit Trotz. Nur wenige Stunden danach fand sich rund ein Dutzend Charkiwer mit ukrainischer Fahne im Schutt vor dem Gebäude ein, in dem kein einziges Fenster mehr ganz ist. »Russen, seht her was ihr hier macht!«, ruft ein Mann. »Wir haben hier immer gefeiert, seht, was nun hier vor sich geht!« Inmitten weiterer eher unflätiger Beschimpfungen rät er den Menschen im Nachbarland: »Hört auf, bevor es zu spät ist.«
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