Taipeh (dpa) - Noch vor einem Jahr hätte niemand gedacht, dass Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen wiedergewählt werden könnte. Kurz vor der Wahl am Samstag zweifelt kaum jemand daran. Wie erklärt sich der unglaubliche Stimmungswandel?
Es hat viel damit zu tun, dass der Widerstand gegen den Druck Pekings auf Taiwan zum entscheidenden Faktor bei der Wahl geworden ist. Die Proteste in Hongkong und die harte Linie der kommunistischen Führung lassen Taiwan als das letzte Bollwerk von Demokratie und Freiheit gegen das diktatorische kommunistische System erscheinen - und Tsai Ing-wen als seine Vorkämpferin.
»In den vergangenen Jahren haben sich Chinas diplomatische Offensive, der militärische Druck, die Einmischung und Infiltration unvermindert fortgesetzt«, sagte Tsai in ihrer Neujahrsansprache. »Chinas Ziel ist klar: Es will Taiwan dazu zwingen, Abstriche bei unserer Souveränität zu machen.«
So betrachtet Peking die Insel als Teil der Volksrepublik, obwohl Taiwan nie dazugehört hat. Es droht sogar mit einer militärischen Eroberung. Als erster Staats- und Parteichef Chinas wirkt Xi Jinping richtig ungeduldig und will die Aufgabe »nicht von einer Generation zur nächsten reichen«.
In einer Fehlkalkulation propagierte Xi Jinping vor einem Jahr das in Hongkong verfolgte Autonomiemodell »ein Land, zwei Systeme« als seine Lösung, um die Insel an die Volksrepublik anzuschließen. Die Idee war in Taiwan immer schon auf Ablehnung gestoßen. Und seit dem späten Frühjahr zeigt sich bei den Protesten in Hongkong, was der einst als pragmatisch gepriesene Grundsatz eigentlich ist: ein unauflösbarer Widerspruch. Er funktioniert nicht mit Demokratie und Freiheit, die den Machtanspruch des kommunistischen Systems herausfordern.
Was die sieben Millionen Hongkonger vergeblich einfordern, leben die 23 Millionen Taiwaner schon seit mehr als zwei Jahrzehnten. »Taiwan kann das Hongkong von Morgen sein«, befürchten die Taiwaner deswegen heute. »In den vergangenen sechs Monaten konnte die Welt sehen, wie sich die Lage in Hongkong unter «ein Land, zwei Systeme» verschlechtert hat«, sagte Tsai in ihrer Ansprache. »Die Menschen in Hongkong haben uns gezeigt, dass «ein Land, zwei Systeme» absolut nicht praktikabel ist.«
Mit ihrer Botschaft trifft die 63-Jährige einen Nerv. Die schwere Niederlage ihrer Fortschrittspartei (DPP) bei der Kommunalwahl im November 2018 scheint vergessen. Drehte sich damals alles um innenpolitische Probleme wie die Reform der Rentenkassen, die schlechte Wirtschaft oder die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe, geht es bei der Präsidentenwahl um die blanke Existenz Taiwans in der »neuen Ära« eines selbstbewusst auftretenden Xi Jinping.
Tsais Niederlage bei der Kommunalwahl hatte der oppositionellen Kuomintang-Partei eigentlich neue Hoffnung gegeben. Nachdem ihr populistischer Politiker Han Kuo-yu erstmals die DPP-Hochburg in der Hafenmetropole Kaohsiung für die Kuomintang erobert hatte, erschien der 62-Jährige plötzlich als neuer Star. Er gibt sich als »Mann des Volkes«, will die Wirtschaft wiederbeleben.
Hans Aufstieg vom frisch gebackenen Bürgermeister zum Präsidentschaftskandidaten ging aber auch seinen Anhängern etwas zu schnell. Dass er im März heimlich beim chinesischen Verbindungsbüro in Hongkong vorbeischaute, zeugte nicht von politischem Gespür und sorgte für Misstrauen. Er steht für eine Annäherung an China, knüpft damit an die Tradition der Kuomintang an.
Was ihn auch von Präsidentin Tsai unterscheidet, ist sein Festhalten an dem »Konsens von 1992«. Damit ist eine weitere widersprüchliche Formel Pekings gemeint, wonach beide Seiten damals anerkannt haben sollen, dass es nur ein China gibt, auch wenn beide etwas anderes darunter verstehen. Dabei steht die Frage einer möglichen (Wieder-) Vereinigung im Raum. Der »Konsens« galt lange als Grundlage für die historische Annäherung zwischen Taiwan und China.
Aber mit Tsais Wahl zur Präsidentin 2016 sprachen sich die Taiwaner gegen eine Fortsetzung dieser Annäherungspolitik ihres Vorgängers Ma Ying-jeou von der Kuomintang aus. Die Juristin, frühere Vizeministerpräsidentin und erfahrene Verwaltungspolitikerin, setzte von Anfang an auf Distanz. Ohnehin hat ihre Fortschrittspartei ihre Wurzeln in der Unabhängigkeitsbewegung in Taiwan.
Als Reaktion fror die chinesische Führung ihre Beziehungen zu Taiwan weitgehend ein. Indem Peking dann versuchte, Taiwan international noch stärker zu isolieren und die letzten diplomatischen Verbündeten abspenstig zu machen, wuchs die Verärgerung der Taiwaner nur noch. Mit einer Wiederwahl Tsais würde das Inselvolk jetzt einmal mehr demonstrieren, dass es sich nicht einschüchtern lässt - und trotz »Eiszeit« mit Peking vor allem den Status quo bewahren will.