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Aktuell Bürgerkrieg

Türkei und Russland einigen sich auf Waffenruhe für Idlib

Die Kämpfe um Idlib im Norden Syriens treiben viele Menschen in die Flucht. Nun trafen sich erstmals wieder zwei Oberkommandierende, die den Schüssel für eine Lösung des Konflikts haben. Kremlchef Putin und der türkische Präsident Erdogan trafen eine neue Vereinbarung.

Konflikt in Syrien
Rettungskräfte versorgen nach einem Luftangriff ein verwundetes Mädchen. Die syrische Armee hat in Idlib sowie in der Provinz Aleppo zuletzt große Geländegewinne verkündet. Foto: Anas Alkharboutli/dpa
Rettungskräfte versorgen nach einem Luftangriff ein verwundetes Mädchen. Die syrische Armee hat in Idlib sowie in der Provinz Aleppo zuletzt große Geländegewinne verkündet. Foto: Anas Alkharboutli/dpa

IDLIB/MOSKAU. Not und Elend hat Syrien seit Ausbruch des Bürgerkriegs genug erlebt - doch die dramatische Lage der Flüchtlinge in Idlib übertrifft vieles, was das Land in den vergangenen neun Jahren erlitten hat.

Fast eine Million Menschen sind im Nordwesten Syriens auf der Flucht, die allermeisten sind verzweifelte Frauen und Kinder. Wie verheerend die Situation ist, zeigen Luftaufnahmen, die Spezialisten der Harvard-Universität in den USA ausgewertet haben.

Zu sehen sind Felder nahe der Stadt Idlib, auf denen vor einiger Zeit noch Olivenbäume standen. Heute sind dort riesige Lager mit Zelten gewachsen, in denen Flüchtlinge hausen. Andere suchen in zerstörten Gebäuden und Ställen Zuflucht. Oder auf Ladeflächen von Lastwagen, nur geschützt vor Wind und Wetter durch eine Plastikfolie. Es fehlt ihnen an allem.

»Die Menschen träumen davon, ein Zelt zu finden, in dem sie und ihre Familien Schutz finden«, erzählt Ahmed al-Dscharban, Vater zweier Kinder und vertrieben aus der Stadt Maret al-Numan. »Das Leiden wird von Tag zu Tag größer. Wir können es kaum noch beschreiben.«

Die Region um die Stadt Idlib ist Syriens letztes großes Rebellengebiet, dominiert von Islamisten der Al-Kaida-nahen Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS). Vor einem Jahr begannen die Truppen von Präsident Baschar al-Assad, darunter pro-iranische Milizen, eine Offensive - unterstützt von Russlands Luftwaffe. In den vergangenen Wochen rückten sie immer weiter vor, Hunderttausende flohen.

Die Menschen streben in Richtung der geschlossenen türkischen Grenze. Doch das Gebiet, in dem sie Schutz finden, wird wegen des Vormarsches der Assad-Truppen immer kleiner. Weil so viele in kurzer Zeit vertrieben werden, sind Hilfsorganisationen kaum noch in der Lage, sie mit dem Notdürftigsten zu versorgen.

Mit der neuen Fluchtwelle wächst auch der Druck auf die Türkei, die in der Region selbst Truppen im Einsatz hat. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verlangte einen Rückzug der syrischen Truppen - und begann mit Angriffen, als dieser ausblieb. In den vergangenen Tagen hat die türkische Armee Assads Anhängern schwere Verluste zugefügt, doch auch selbst einen hohen Preis bezahlt. Mindestens 37 türkische Soldaten wurden innerhalb einer Woche getötet, insgesamt waren es seit Anfang Februar mehr als 50.

Kremlchef Wladimir Putin bedauerte bei einem rund sechsstündigen Treffen mit Erdogan in Moskau am Donnerstag die vielen Opfer. Er beteuerte aber auch, dass Assads Truppen nicht gewusst hätten, dass die Türken dort waren. Die beiden Staatschefs schlossen eine neue Vereinbarung. Das Dokument beinhaltet einen neuen Waffenstillstand, gemeinsame Patrouillen von Russen und Türken in Idlib und den Kampf gegen islamistische Terroristen. Ähnliches hatten die beiden Staatschefs schon in Sotschi vereinbart.

Wie sich die Lage weiter entwickelt, wird auch künftig von Russland abhängen, dem wichtigen Verbündeten Assads. In Moskau, so heißt es, liegt der Schlüssel für die Lösung des Konflikts. Schon vor dem neuen Treffen stellten die Russen klar, dass sie Assad weiter dabei unterstützen, Syriens Staatsgebiet komplett unter seine Kontrolle zu bringen.

Die russischen Truppen sehen sich seit langem als die einzigen legitimen ausländischen Streitkräfte in Syrien. Zulassen will Russland den türkischen Militäreinsatz deshalb nur so lange, bis die islamistischen Terroristen besiegt sind. Dabei kritisierte Moskaus Verteidigungsministerium, dass sich Türken unlängst selbst mit Terroristen verbündet hätten. Das Ministerium hatte auch gewarnt, künftig nicht mehr für die Sicherheit der türkischen Streitkräfte sorgen zu können. Nun gab es einen neuen Schulterschluss.

Schon vor Erdogans Besuch bei Putin betonte Moskaus Außenminister Sergej Lawrow, dass der Anti-Terror-Kampf Vorrang habe - unabhängig davon, wie viele Flüchtlinge in die Türkei oder nach Europa unterwegs seien. Im Moskau sehen es nicht wenige als nützlichen Nebeneffekt, dass die Vielzahl neuer Migranten die EU-Staaten vor Probleme stellen und dort womöglich die Gesellschaften spalten, Regierungsgegner stärken und für politische Instabilität sorgen könnten.

Immer wieder hatte Russland dem Westen vorgeworfen, jahrelang Assads Gegner mit Geld und Waffen gefördert zu haben. Der Moskauer Militärexperte Pawel Felgenhauer meinte in der kritischen Zeitung »Nowaja Gaseta«, dass der Kreml von einer weiteren Entfremdung zwischen Erdogan und dem Westen - allen voran der Nato - träume.

Dass Putin und Erdogan sich so eng abstimmen und immer wieder treffen oder miteinander telefonieren, hängt vor allem damit zusammen, dass keiner von beiden an einer direkten kriegerischen Konfrontation interessiert ist. Für die Türkei ist Russland vor allem in einigen zentralen Wirtschaftszweigen ein wichtiger Partner. Sie braucht - gerade in der schlechten Wirtschaftslage - die russischen Touristen und Absatzmärkte. Auch das russische Erdgas.

Dass eine Machtprobe mit Putin schlecht ausgehen könnte, das hat Erdogan zudem bitter lernen müssen. Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei 2015 reagierte der Kremlchef mit Sanktionen: Er untersagte unter anderem Pauschalreisen in die Türkei und verhängte einen weitgehenden Importstopp auf landwirtschaftliche Produkte.

Erdogan wollte mit seinem Besuch in Moskau vor allem auch die Massenflucht der Menschen in Richtung türkische Grenze stoppen. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien rund 3,6 Millionen Flüchtlinge von dort aufgenommen. Mehr könne und wolle das Land nicht bewältigen, warnte Erdogan wiederholt. In der Gesellschaft schrumpft die Akzeptanz für die vielen Flüchtlinge rapide. Das setzt Erdogan auch innenpolitisch unter Druck. Auch deshalb hat er jüngst die Grenztore für Flüchtlinge nach Europa geöffnet.

Angesichts der Lage setzt die Bundesregierung auf eine geschlossene europäische Antwort und auch auf mehr Hilfe für die Türkei. »Für uns ist klar: Die EU muss die Anstrengungen der Türkei bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten weiterhin auch verstärkt finanziell unterstützen«, sagte Außenminister Heiko Maas vor seinem Abflug zu einem EU-Außenministertreffen in Zagreb. »Denn die Türkei ist weltweit das größte Aufnahmeland von Flüchtlingen, und eine faire Lastenteilung ist auch in unserem Interesse.«

Auch mehrere EU-Staaten stellten der Türkei weiteres Geld zur Versorgung syrischer Flüchtlinge in Aussicht - vorausgesetzt Ankara macht wieder seine Grenze zur EU dicht. In der EU sei der Wille da, mehr zu helfen, sagte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn.

Die Syrer im Rebellengebiet von Idlib hoffen, dass die Waffenruhe hält. Viele von ihnen sind bereits aus anderen Gebieten geflohen, als die Regierungstruppen dort bei früheren Offensiven anrückten. So wie Huda Chaiti, die einst in der Region Ost-Ghuta nahe Damaskus lebte und nun ein Frauenzentrum in Idlib leitet, das von der deutschen Hilfsorganisation Medico International unterstützt wird.

Sie ist wie die meisten in einer Sackgasse angekommen, denn die türkische Grenze ist geschlossen. Eine Rückkehr ins Regierungsgebiet schließt Huda wie viele aus: »Die Menschen haben Angst davor, dass das Regime an ihnen Rache nimmt«, sagt sie. Wohin sie geht, wenn Assads Truppen weiter vorrücken? »Ich habe keine Ahnung, wohin ich dann gehen soll. Ich habe keine Wahl. Das macht mir große Sorgen.«

UN-Nothilfebüro Ocha zur Lage in Syrien

Analyse-Bericht und Satellitenbilder

Signal Programm Harvard

UNHCR zu Flüchtlingen im Nordwesten Syriens