Mit einem militärischen Schachzug haben hochmobile ukrainische Verbände die Dynamik des russischen Krieges gegen ihr Land vorerst gedreht. Eine »Mischung aus Täuschung und Schwerpunkt« bescheinigt der ranghöchste deutsche Soldat, Generalinspekteur Eberhard Zorn, den ukrainischen Kräften.
Sie seien nun »wirklich in herausragender Weise in der Lage«, agil zu agieren, Führungssysteme einzusetzen und im »Gefecht der verbundenen Waffen« ihre Systeme abgestimmt einzusetzen, macht er in Berlin bei einem Auftritt bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) deutlich. »Täuschung war in dem Fall im Süden, Schwerpunkt war im Norden«, sagt Zorn zur beobachteten Strategie, mit der die Ukrainer russische Verbände im Nordosten in die Flucht schlugen.
Die Rückeroberung besetzter Gebiete durch die ukrainische Armee in den vergangenen Tagen nähren nicht nur in dem angegriffenen Land Hoffnungen auf eine militärische Wende. Russland wirkt angeschlagen - das britische Verteidigungsministerium bewertet sogar russische Verbände von zentraler Bedeutung geschwächt, wie die 1. Gardepanzerarmee, die zur Verteidigung der Hauptstadt Moskau bestimmt sei. Teile dieses Verbandes, der zu den prestigeträchtigsten des russischen Militärs gehöre, hätten sich in der vergangenen Woche aus der Region Charkiw zurückgezogen. Nach den Verlusten werde Russland Jahre benötigen, um diese Fähigkeiten wieder aufzubauen.
Tschetscheniens Machthaber kritisiert russische Strategie
In Russland herrscht nach den Misserfolgen Verunsicherung und Wut. Und Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadyrow, der mehrere Eliteeinheiten in die Ukraine geschickt hat, kritisierte das russische Verteidigungsministerium sowohl für dessen Strategie als auch das lange Schweigen zum Rückzug. Es seien Fehler gemacht worden. »Wenn nicht heute oder morgen Änderungen in der Strategie vollzogen werden, bin ich gezwungen, auf die Führung des Verteidigungsministeriums und des Landes zuzugehen und ihnen die wirkliche Lage vor Ort zu erklären«, kündigte er an.
Gleichzeitig wollte er sich aber auch die russischen Militärblogger vorknöpfen, um ihnen »Patriotismus« beizubringen. Hintergrund: Die Blogger aus dem zumeist ultrarechten Spektrum, die eigentlich als die größten Unterstützer des russischen Angriffskriegs gelten, schießen nun rhetorisch gegen die eigene Militärführung. Die Vorwürfe reichen von ungenügender Vorbereitung der Armee auf den Krieg bis hin zur inkompetenten Führung und Verrat. Gefordert wird unter anderem der Rücktritt von Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der als enger Vertrauter von Präsident Wladimir Putin gilt.
Den Krieg wollen viele Hardliner nun durch eine Generalmobilmachung und die Bombardierung wichtiger Infrastrukturobjekte in der Ukraine gewinnen. Eine Niederlage setzen sie mit dem Untergang Russlands gleich. Dass der Strategiewechsel zumindest teilweise schon vom Verteidigungsministerium vollzogen wurde, zeigte sich am montäglichen Massenbeschuss von Kraftwerken. Eine Generalmobilmachung plant der Kreml derzeit nach eigenen Angaben jedoch nicht.
Selenskyj-Berater hält »Dominoeffekt« für möglich
Wichtig für die Ukraine sei jetzt die Verteidigung der kritischen Infrastruktur gegen russische Angriffe aus der Luft, schreibt Mychajlo Podoljak, ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, auf Twitter. Er äußert - »zweitens« - die Erwartung an einen »Dominoeffekt«, einen Zusammenbruch der russischen Frontlinie mit der Folge einer politischen Destabilisierung der russischen Führung. »Es ist möglich. Waffen erforderlich«, schreibt er.
Die ukrainischen Truppen fassen weitere Gebiete ins Auge, nachdem sie im Charkiwer Gebiet eine Fläche von etwa der doppelten Größe des Saarlandes befreit haben. Der Militärgouverneur des komplett besetzten benachbarten Luhansker Gebiets, Serhij Hajdaj, hält einen Vorstoß nach Swatowo und Kreminna und anschließend die komplette Befreiung der östlichen Provinz für möglich. Dafür müssten die ukrainischen Einheiten aber zuerst die russische Verteidigungslinie entlang der Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez überwinden. Erste Anzeichen gibt es, dass dieser Plan bereits verfolgt wird.
Parallel dazu wird der Druck auf die russischen Truppen im südukrainischen Gebiet Cherson aufrecht erhalten. Die russische Armee musste mehrere Dörfer aufgeben und die Front nähert sich langsam, aber sicher der Provinzhauptstadt Cherson und dem Fluss Dnipro. Aufgrund des Munitionsmangels und einer schlechten Moral halten es einige Beobachter für möglich, dass die Russen schon bald das rechte westliche Dnipro-Ufer räumen könnten.
Zusätzlich dazu setzt die ukrainische Armee ihre Taktik der »tausend Nadelstiche« fort: Sabotageakte im grenznahen russischen Gebiet auf Stromleitungen, Eisenbahnlinien und andere Infrastrukturobjekte. Dazu hochpräzise Raketenangriffe auf Munitionsdepots, Kasernen und Kommandozentralen selbst im tiefen russischen Hinterland und wie kürzlich bei Taganrog im Süden des Landes erhöhen die Verunsicherung.
Auch russisch besetztes Donezk könnte angegriffen werden
Beobachtete ukrainische Truppenkonzentrationen bei Wuhledar und an anderen Frontabschnitten nähren Gerüchte über einen bevorstehenden ukrainischen Vorstoß in einem dritten Frontbereich. Ausgeschlossen wird nicht einmal mehr ein Angriff auf die Separatistenhochburg Donezk, der die Ukrainer auf einen kompletten Zusammenbruch der russischen Armee hoffen lässt und einem Exodus aus der Ukraine. Dabei erschien eine komplette Befreiung des ukrainischen Staatsgebiets einschließlich der Halbinsel Krim noch vor kurzem als Fantasterei.
Der Politikwissenschaftler Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält es für verfrüht, einen Wendepunkt auszurufen. Dass der russische Rückzug einer Flucht ähnele, lasse aber Schlüsse auf die Moral der Soldaten zu. "Vor diesem Hintergrund geht man nicht fehl in der Annahme, dass die eine oder andere Niederlage noch folgen wird. Russland habe eine Überlegenheit bei der "Hardware", aber bei den Soldaten erscheine der Wille zum Kampf geschwächt.
Deutlich werde, dass die westlichen Waffenlieferungen der letzten Monate nun »Wirkung entfaltet haben«. »Ich halte nichts davon, von russischen Befindlichkeiten auszugehen als Fixpunkte westlicher Strategiebildung. Das haben wir viel zu lange getan«, sagt Kaim. »Wir haben viel zu lange darüber diskutiert, ob Waffenlieferungen an die Ukraine rote Linien überschreiten oder welche Waffenlieferung rote Linien überschreiten würden. Das war doch alles viel Spekulation, offensichtlich auch Fehlspekulation.« (GEA)