BERLIN. Nach monatelangem Ringen fällt der Bundestag heute die Entscheidung über die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht in Deutschland.
Vor der mit Spannung erwarteten Abstimmung - weitgehend ohne die sonst üblichen Fraktionsvorgaben - zeichneten sich zunächst keine klaren Mehrheitsverhältnisse ab. Als einziger ausgearbeiteter Gesetzentwurf liegt ein Kompromissvorschlag für eine Impfpflicht zunächst für Menschen ab 60 Jahre vor. Darauf hatten sich zwei Gruppen von Abgeordneten aus SPD, FDP und Grünen verständigt. Zwei Anträge wenden sich gegen eine Impfpflicht, die Union fordert in einem Antrag zuerst den Aufbau eines Impfregisters.
Bundesrat muss zustimmen
Seit Beginn der Pandemie war eine allgemeine Impfpflicht lange über Parteigrenzen hinweg ausgeschlossen worden. Angesichts schleppender Impfungen sprachen sich Ende vergangenen Jahres Kanzler Olaf Scholz (SPD) und die Ministerpräsidenten dann doch dafür aus. Wenn der Bundestag die Impfpflicht beschließt, müsste der Bundesrat zustimmen. Aktuell haben mindestens 63,2 Millionen Menschen oder 76 Prozent aller Einwohner den Grundschutz mit der nötigen zweiten Spritze. Die Impf-Kampagne ist aber nahezu zum Erliegen gekommen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagte am Mittwochabend in der ARD, er glaube, dass der Kompromissvorschlag aus den Ampel-Fraktionen eine Mehrheit bekomme. Sollte die von ihm unterstützte Impfpflicht scheitern, denke er aber »natürlich nicht« über einen Rücktritt nach.
CDU-Generalsekretär Mario Czaja rechnet nicht damit, dass eine Impfpflicht beschlossen wird. »Bislang sehe ich für keinen Antrag im Parlament eine Mehrheit«, sagte Czaja der Deutschen Presse-Agentur. Er hält dies jedoch derzeit für kein Problem. Die Union schlage stattdessen einen »Impfvorsorgemechanismus« vor, um im Herbst auf eine mögliche neue Virusvariante vorbereitet zu sein. »Die Fraktion steht geschlossen hinter unserem Antrag.«
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr will keinem der vorliegenden Anträge zustimmen, wie er dem »Handelsblatt« sagte. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Richtungsweisung für seine Partei.
Scholz hatte sich zunächst für eine Impfpflicht für alle Erwachsenen stark gemacht. Eine so große Lösung ist aber nicht mehr realistisch. Um doch noch ein mehrheitsfähiges Modell zu erreichen, weichten die Befürworter einer Impfpflicht ab 18 ihren Vorschlag auf und einigten sich mit einer Abgeordnetengruppe, die für eine mögliche Impfpflicht ab 50 eintrat, auf eine gemeinsame Initiative. Zentrale Punkte des Entwurfs:
Pflichten
Für alle ab 60 Jahre soll eine Pflicht kommen, bis zum 15. Oktober über einen Impf- oder Genesenennachweis zu verfügen. Für alle von 18 bis 59 Jahre, die nicht geimpft sind, kommt zunächst eine Beratungspflicht - sie müssen bis dahin »eine individuelle ärztliche Beratung« nachweisen. Über die Pflichten, Beratungs- und Impfangebote sollen die Krankenkassen bis 15. Mai die Bürger informieren.
Ausnahmen
Von den Pflichten ausgenommen sind Menschen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, und Frauen im ersten Schwangerschaftsdrittel.
Kontrollen
Die Nachweise muss man Behörden ab 15. Oktober zusammen mit einem Lichtbildausweis vorlegen können. Zum Durchsetzen sollen im Notfall nur Zwangsgelder zulässig sein, keine Ersatzhaft. Unabhängig von Kontrollen müssen Nachweise bis 15. Oktober der Krankenkasse vorgelegt werden, die Kassen sollen dies zum 1. September anfordern.
Zusätzliche Stufen
Der Bundestag soll im Licht des aktuellen Infektionsgeschehens beschließen können, dass die Nachweispflicht noch ausgesetzt wird. Ab dem 1. September kann das Parlament zudem beschließen, dass die Impfpflicht auch für 18- bis 59-Jährige kommt. Die gesamten Regelungen sollen bis 31. Dezember 2023 gelten.
Register
Bis Ende 2023 soll ein Register eingerichtet werden, das erhaltene Impfungen gegen bestimmte übertragbare Krankheiten oder eine vorliegende Immunität erfasst.
Außer dem Gesetzentwurf liegen dem Bundestag drei Anträge vor
- Die Union fordert ein Impfregister und spricht sich für einen »gestuften Impfmechanismus« aus, den Bundestag und Bundesrat bei verschärfter Pandemielage in Kraft setzen könnten. Er könnte dann auch eine Impfpflicht vorsehen, aber nur für gefährdete Gruppen.
- Eine Abgeordnetengruppe um FDP-Vize Wolfgang Kubicki fordert, die Impfbereitschaft ohne allgemeine Impfpflicht zu erhöhen.
- Die AfD fordert, von der Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht Abstand zu nehmen und die schon seit März greifende Impfpflicht für Personal in Einrichtungen wie Kliniken und Pflegeheimen aufzuheben.
Entscheiden muss der Bundestag voraussichtlich zuerst noch über die Reihenfolge bei der Abstimmung. SPD und FDP hatten signalisiert, dass zuerst über die Anträge entschieden werden soll und zum Schluss über den Entwurf für die Impfpflicht. Dies könnte die Chancen erhöhen, dass manche Abgeordnete letztlich für ihn stimmen, nachdem eigentlich bevorzugte Initiativen zuvor keine Mehrheit bekommen haben. (dpa)