Unterschiedlicher könnten Politiker kaum sein: Annalena Baerbock, 43, steht seit bald zwei Jahren als erste Frau an der Spitze des Auswärtigen Amts in Berlin. Die Grüne hat sich einem wertegeleiteten Kurs verschrieben und legt einen großen Akzent auf feministische Außenpolitik. Benjamin Netanjahu, 74, ist seit Ende 2022 erneut als Ministerpräsident im Amt. Davor hatte er das Land seit 1996 bereits zwei Mal geführt. Er gilt als Machtpolitiker, der mit allen politischen Wassern gewaschen ist. Kritiker werfen ihm vor, sich bisweilen mehr um sein politisches Überleben als um den Staat selbst zu kümmern. Jetzt hat es zwischen Baerbock und Netanjahu gekracht.
Um kurz nach 23.00 Uhr am Donnerstagabend veröffentlicht die »Bild«-Zeitung auf der Plattform X (früher Twitter) eine brisante Story. »Riesen-Eklat hinter verschlossenen Türen« titelt das Blatt, man habe Streit zwischen Baerbock und Netanjahu enthüllt. Er bezieht sich auf die Berichterstattung israelischer Journalisten.
Berichte holen Baerbock nach G7-Essen ein
Für Baerbock war da gerade ein informelles Abendessen mit ihren Kolleginnen und Kollegen der G7-Runde demokratischer Industriestaaten im Restaurant »Il Geranio« auf der italienischen Mittelmeerinsel Capri beendet. Ob sie von der Berichterstattung am Abend überrascht wurde, ist offen - die »Bild«-Zeitung hatte im Auswärtigen Amt zu der Darstellung des Treffens mit Netanjahu angefragt und nachts geschrieben, das Amt habe nicht sofort auf die Anfrage reagiert.
Eine Journalistin des israelischen TV-Senders Channel 13 schildert auf X, der Ministerin seien Aufnahmen aus dem Gazastreifen gezeigt worden, auf denen mit Lebensmittel gefüllte Märkte zu sehen waren. Baerbock habe im Gegenzug auf den Hunger der Menschen in dem Küstengebiet hingewiesen und dem Regierungschef angeboten, Bilder hungernder Kinder auf ihrem Handy zu zeigen. Netanjahu soll erwidert haben, sie solle sich Fotos der Märkte und auch von Menschen am Strand anschauen, es gebe keine Fälle von Hunger dort. Internationalen Experten zufolge droht in Teilen des Gazastreifens eine Hungersnot.
Baerbock riet ihm dem Bericht zufolge dazu, die Bilder nicht zu zeigen, da sie nicht der Realität im Gazastreifen entsprächen. Israels Regierungschef wiederum soll darauf lautstark erwidert haben, dass die Fotos echt seien und Israel nicht wie die Nazis eine erfundene Realität zeige. Die Nazis hatten 1942 etwa ein Filmteam einen Propagandafilm mit gestellten Szenen des Alltags im Warschauer Ghetto drehen lassen.
Auch ein Nazi-Vergleich
Ein Vergleich mit der Nazi-Zeit auf internationalem Parkett - für jeden deutschen Politiker ist das eine schwierige Situation, auch hinter verschlossenen Türen. Baerbock soll Netanjahu daraufhin gefragt haben, ob er sagen wolle, dass etwa Mediziner im Gazastreifen sowie internationale Medien nicht die Wahrheit berichteten, heißt es in dem Bericht der israelischen Journalistin.
Durch den Holocaust mit Millionen von den Nazis getöteten Juden sind Deutschland und Israel auf besondere Art miteinander verbunden. Auch Baerbock hat wiederholt betont: Die Sicherheit Israels sei für sie deutsche Staatsraison. Das macht natürlich auch ihre Beziehung zu Netanjahu besonders.
Siebter Besuch seit der Terrorattacke
Der Ministerpräsident hatte Baerbock am Mittwoch gegen Mittag in seinem Amtssitz in Jerusalem empfangen. Am Nachmittag reiste Baerbock dann weiter zu dem G7-Treffen. Auf einem Foto von der Begrüßung durch Netanjahu ist zu sehen, wie sich beide die Hand reichen, mit einem leichten, routinierten Lächeln im Gesicht.
Seit Wochen kritisiert Baerbock die israelische Regierung dafür, dass diese aus ihrer Sicht viel zu wenig humanitäre Hilfe in den Gazastreifen lässt. Verantwortlich aus ihrer Sicht: Netanjahu persönlich. Das will sie ihm nun sagen, im kleinen Kreis der Delegationen, hinter verschlossenen Türen.
Es ist Baerbocks siebter Besuch in Israel seit dem Terrorangriff der islamistischen Hamas vom 7. Oktober. Seither lässt der Bundesaußenministerin der Gaza-Krieg, die Lage der immer noch in der Gewalt der Hamas gefangenen Geiseln sowie das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, kaum Zeit für Ruhe.
Kritiker zweifeln an Sinn von Israel-Besuchen
Kritiker Zuhause bezweifeln, dass Baerbock mit ihren Israel-Reisen und die Region überhaupt etwas bewirkt - zumal es schon so scheint, als dringe selbst US-Präsident Joe Biden als engster Verbündeter bei Netanjahu mit seinen Appellen nicht durch. Sie selbst sieht das anders. Neben den USA sei Deutschland eines der ganz wenigen Länder, die überhaupt noch mit der israelischen Regierung redeten - und von dieser gehört würden. Jedes Gespräch sei wertvoll, auch wenn es immer nur kleine Schritte seien. Und die arabischen Nachbarn Israels seien für ihren Einsatz zur Versorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen dankbar.
Stimmung bei Baerbock hat sich verändert
Während in den ersten Wochen nach den Hamas-Attacken bei Baerbocks Besuchen noch vor allem die Solidarität und die Sorge um die Geiseln, die teils auch eine deutsche Staatsbürgerschaft haben, im Zentrum standen, ist mittlerweile das Thema Humanität und Versorgung der Zivilbevölkerung in Gaza immer mehr in den öffentlichen Mittelpunkt gerückt. Immer lauter wurden ihre Appelle an die israelische Seite, doch endlich mehr Hilfe nach Gaza zu lassen. Es schien schon länger, als sei Baerbock dabei, Stück für Stück die Geduld mit Netanjahu und einem Teil der israelischen Regierung zu verlieren.
Baerbocks Reaktion schmallippig
Das Auswärtige Amt bezeichnet den Bericht über den Disput zwischen Baerbock und Netanjahu als irreführend. Kernpunkte der Darstellung des einstündigen Treffens seien falsch, schrieb das Auswärtige Amt am Freitag auf der Plattform X (vormals Twitter). Vor allem verkürzend sei die Darstellung, ärgert man sich auf deutscher Seite. Hört man sich um, wird nicht dementiert, dass es von Seiten Netanjahus auch mal lauter geworden sein.
Zum Abschluss des G7-Treffens äußert sich Baerbock auf eine Journalistenfrage schmallippig. »Wir berichten nicht aus vertraulichen Gesprächen«, betonte sie - und die Betonung liegt auf »wir«. Sie ergänzte: »Uns gegenüber wurde Bedauern über die Veröffentlichung, deren Quelle unklar sei, ausgedrückt und wir haben genau dem nichts weiter hinzuzufügen.«
© dpa-infocom, dpa:240419-99-732955/8