Er ist bei weitem nicht der erste hochrangige Politiker aus Berlin, der in die kriegsgeschüttelte Ukraine fährt. Aber seinem Besuch kommt eine besondere Symbolkraft und Aufmerksamkeit zu. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier weiß das, als er am Dienstagmorgen noch bei Dunkelheit am Bahnhof in Kiew aus dem Sonderzug steigt, der ihn von Polen aus hierher gebracht hat.
»Ich schaue wie viele Deutsche voller Bewunderung auf die Menschen hier in der Ukraine. Auf ihren Mut, auf ihre Unbeugsamkeit«, sagt er. Seine Botschaft an sie laute: »Ihr könnt Euch auf Deutschland verlassen!«
Steinmeier will mit seinem Besuch deutlich machen, dass dies keine vorübergehende, sondern eine dauerhafte Solidarität ist. Und dass sie gerade jetzt gilt, da Russland die Ukraine mit Attacken aus der Luft auf seine Energie-Infrastruktur überzieht.
Es ist eine Reise nicht ohne Risiken, die er an diesem regnerischen Herbsttag unternimmt. Anders als andere Besucher belässt er es nicht bei einer Visite und Gesprächen in der Hauptstadt Kiew und ihren Vororten. Nach einer halben Stunde fährt der Zug mit seinen nur vier Waggons durch bunt gefärbte Wälder und weite Ackerflächen vorbei an kleinen Dörfern weiter Richtung Norden. Sein Ziel ist zunächst die rund 140 Kilometer entfernt gelegene Stadt Tschernihiw. Von da aus geht es im Auto nochmals eineinhalb Stunden weiter nach Korjukiwka.
Luftalarm kurz nach der Ankunft
In dieser nur rund 30 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernten Kleinstadt bekommt Steinmeier einen kleinen Eindruck vom Kriegsalltag in der Ukraine. Kaum ist er angekommen, heulen die Sirenen. Luftalarm. Zusammen mit Bürgermeister Ratan Achmedow und eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern geht es für eineinhalb Stunden in den Luftschutzkeller. Dort bekommt Steinmeier Geschichten von Menschen zu hören, die drei Wochen im Keller leben mussten, die sich den russischen Panzern allein mit erhobenen Händen in den Weg stellten oder die um ihre gegen die Russen kämpfenden Männer bangen. »Mein Mann ist an der Front, an der heißesten Front«, berichtet ihm eine junge Frau.
»Das Gespräch gerade dort zu führen war besonders eindrücklich. Und ich glaube, das ging nicht nur mir so«, sagt Steinmeier anschließend. Er war schon einmal hier in Korjukiwka. Gerade einmal ein Jahr ist das her. Damals herrschte noch Frieden. Damals flog er von Kiew mit dem Hubschrauber dorthin. Jetzt fährt der Konvoi an zerbombten Brücken und Häusern vorbei, ab und zu steht ein ausgebranntes Auto am Straßenrand.
Steinmeier kommt nicht mit leeren Händen
Bereits vor einem Jahr hatte Bürgermeister Achmedow den Wunsch nach einer Städtepartnerschaft mit einer deutschen Kommune geäußert. Steinmeier bringt jetzt ein Angebot aus Waldkirch im Breisgau mit.
Und noch etwas hat er dabei: eine Art Winterhilfspaket mit Stromgenerator, einer mobilen Anlage zur Reparatur von Heizungen und Wasseranlagen sowie einer Maschine zum Herstellen von Hackschnitzeln zum Heizen. Alles Dinge, die helfen sollen, dass die Menschen hier heil durch den Winter kommen. Denn nach den jüngsten Angriffen der russischen Armee könnten die kommenden Monate für viele Ukrainerinnen und Ukrainer eisig und dunkel werden.
Um dies zu verhindern, soll dieses Winterpaket auch nicht das einzige bleiben. Der Bundespräsident und sein ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj werden später einen gemeinsamen Appell an deutsche Städte und Gemeinden richten, kurzfristig neue Partnerschaften mit ukrainischen Kommunen aufzunehmen. Für Hilfen wie die von Steinmeier mitgebrachte Lieferung gibt es aus dem Etat des Einwicklungshilfeministeriums sogar Zuschüsse.
Ausladung im April beispielloser politischer Affront
Steinmeier und Selenskyj - wie würden sie sich am Abend gegenüber treten? Schließlich standen sie im Frühjahr im Mittelpunkt der erheblichen Verwerfungen zwischen Berlin und Kiew. Eigentlich wollte der Deutsche den Ukrainer schon Mitte April besuchen - zusammen mit den Staatspräsidenten Polens, Lettlands, Litauens und Estlands. Die Initiative hierfür war von Polens Präsident Andrzej Duda ausgegangen. Unmittelbar vor dem Start kam aus Kiew eine Absage für Steinmeier.
Die Ausladung wurde in Berlin als beispielloser diplomatischer und politischer Affront gewertet. Selenskyjs Erklärungsversuch, er und sein Büro hätten gar keine offizielle Anfrage für einen Besuch aus dem Bundespräsidialamt erhalten, nahm man nur kopfschüttelnd zur Kenntnis. Erst ein Telefongespräch beider Präsidenten Anfang Mai entspannte die Lage wieder. »Irritationen der Vergangenheit wurden ausgeräumt«, hieß es anschließend aus dem Bundespräsidialamt.
Von diesem Zerwürfnis im Frühjahr ist jedenfalls in den Statements nach dem Gespräch beider Präsidenten nichts zu spüren. Selenskyj bedankt sich für die deutsche Hilfe, die zum Frieden in seinem Land beitrage, nennt sie »groß und historisch wichtig«. Zugleich macht er deutlich, dass sich sein Land weitere Waffen aus Deutschland wünscht. Die würden zeitnah geliefert, versichert Steinmeier. Seinem Gastgeber bescheinigt er: »Sie führen Ihr Land in beeindruckender Weise durch diese historische Zeit. Ich habe großen Respekt davor.«
Weitere Gründe für Entspannung
Steinmeier kommt jetzt in einer wesentlich komfortableren Lage nach Kiew, als dies im April der Fall gewesen wäre. Seinerzeit stritten Ampel-Fraktionen und CDU/CSU-Opposition im Bundestag noch über eine gemeinsame Resolution, in der auch die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gefordert werden sollte.
Heute ist die Lieferliste lang. Sie reicht von 10 Panzerhaubitzen 2000 über 30 Flakpanzer Gepard bis zu drei Mehrfachraketenwerfern Mars II und einem Luftverteidigungssystem Iris-T, um nur die größten Waffensysteme zu nennen. Weitere Panzerhaubitzen, Mars-II- und Iris-T-Systeme sowie andere Waffen sollen folgen.
Dass Steinmeier nach anfänglichem Zögern Fehleinschätzungen in der Bewertung von Kremlchef Wladimir Putin und seiner Politik eingeräumt hat, wurde in Kiew ebenfalls positiv registriert.
Und für Entspannung sorgt auch dies: Der von vielen im politischen Berlin als Krakeeler empfundene ukrainische Botschafter Andrij Melnyk wurde nach Kiew zurückbeordert. Steinmeier war eine seiner beliebten Twitter-Zielscheiben gewesen. Wenige Stunden, bevor der Bundespräsident in Richtung Ukraine aufbrach, nahm er am Montag im Schloss Bellevue das Beglaubigungsschreiben des Nachfolgers Oleksii Makeiev entgegen. Beide kennen sich von früher. Steinmeier ist, so ist zu vernehmen, sehr angetan von Makeiev. Auch das deutet auf ruhigere Zeiten im Verhältnis zwischen Kiew und Berlin hin.
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