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Sonderzug nach Kiew: Die wichtigste Reise des Olaf Scholz

Und er reist doch: Monatelang ist über einen Besuch des Kanzlers in Kiew diskutiert worden. Jetzt ist Olaf Scholz da. Die Erwartungen hat er selbst hochgeschraubt. Er hat sie zur Hälfte erfüllt. Der Gastgeber ist trotzdem zufrieden.

Scholz bei Ankunft
Olaf Scholz nach seiner Ankunft am Bahnhof in Kiew. Deutschlands Botschafterin in Kiew, Anka Feldhusen, nimmt ihn auf dem Bahnsteig in Empfang. Foto: Kay Nietfeld
Olaf Scholz nach seiner Ankunft am Bahnhof in Kiew. Deutschlands Botschafterin in Kiew, Anka Feldhusen, nimmt ihn auf dem Bahnsteig in Empfang.
Foto: Kay Nietfeld

Was musste Bundeskanzler Olaf Scholz sich in den vergangenen Wochen anhören, weil er nicht nach Kiew reisen wollte. Mangelnde Solidarität wurde ihm vorgeworfen, fehlende Handlungsbereitschaft und Trotzigkeit.

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk nannte ihn sogar eine »beleidigte Leberwurst«. Am Donnerstagnachmittag steht er im Park des prachtvollen Marienpalastes mitten in der ukrainischen Hauptstadt neben Präsident Wolodomyr Selenskyj - und auf einmal scheint alles wieder gut zu sein.

»Ich bin sehr zufrieden mit unserem Treffen, das sage ich offen«, sagt Selenskyj auf der Pressekonferenz mit insgesamt vier Staats- und Regierungschefs der EU, die sich auf den beschwerlichen Weg nach Kiew gemacht haben. Scholz steht ganz am Rand, Selenskyj in der Mitte, zwischen den beiden Emmanuel Macron. Die Worte Selenskyjs wirken wie eine Umarmung über den französischen Präsidenten hinweg. »Wir haben das Signal der Vereinigung erhalten. (...) Ja, ich bin überzeugt, dass das ganze deutsche Volk die Ukraine unterstützt.«

Ungewohnt viel Lob von Selenskyj

Soviel Lob auf einmal von ukrainischer Seite für Deutschland hat es seit Kriegsbeginn wohl noch nicht gegeben. Scholz hatte stets gesagt, er wolle nur in die Ukraine reisen, wenn es was konkretes zu regeln gibt. »Ich werde nicht mich einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen. Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge.« Dieser Satz zählt zu den meistzitierten seiner bisherigen Amtszeit.

Jetzt ist er - fast vier Monate nach Kriegsbeginn - tatsächlich nach Kiew gereist - und er hat geliefert. Zumindest so halb. Auf der Pressekonferenz verspricht er der Ukraine, sich dafür einzusetzen, dass sie Kandidat für eine Mitgliedschaft der Europäischen Union wird. Das ist eine der dringlichsten Forderungen des Landes, das sich seit vier Monaten tapfer gegen die russischen Angreifer zur Wehr setzt. »Meine Kollegen und ich sind heute hier nach Kiew gekommen mit einer klaren Botschaft: Die Ukraine gehört zur europäischen Familie.«

Keine weiteren Waffen-Versprechen

Auch Macron, der italienische Regierungschef Mario Draghi und der rumänische Präsident Klaus Iohannis, die zusammen mit Scholz Kiew besuchen, sind dafür. Vor allem bei Macron konnte man nicht unbedingt davon ausgehen. Nächste Woche soll der EU-Gipfel entscheiden. Das wird noch ein Stück Arbeit, weil Einstimmigkeit erforderlich ist, aber ein erster Schritt ist gemacht.

Bei dem zweiten wichtigen Thema für Selenskyj und die Ukraine liefert Scholz nichts Neues: Es gibt keine neuen Zusagen für schwere Waffen, schon gar nicht für moderne Panzer, die sich die Ukraine erhofft. Doch selbst das schien Selenskyj an diesem Tag nicht zu stören. »Die Lieferungen laufen und darunter ist das, was wir erwarten«, sagt Selenskyj.

16 Stunden nach Kiew unterwegs

Für Scholz dürfte sich die beschwerliche Reise also gelohnt haben. Insgesamt 16 Stunden war er nach Kiew unterwegs. Weil der Luftraum gesperrt ist, fliegt er am Donnerstagabend nur bis Rzeszow in Südpolen um dann in Przemysl an der Grenze am späten Abend den Zug zu besteigen.

Jörg Kukies und Jens Plötner, die Berater des Kanzlers für Wirtschaft und Außenpolitik, müssen die Kisten mit Verfpflegung an Bord hieven - Schokoriegel, Gummibärchen und Spätburgunder aus Baden - was man eben so braucht, um eine knapp zehnstündige Zugfahrt zu überstehen. Es ist die gefährlichste und spektakulärste Reise des Kanzlers in seiner politischen Karriere. Und am Ende wohl auch die bedeutendste.

Sie stellt alle bisherigen Reisen von Spitzenpolitikern nach Kiew in den Schatten: Die Chefs der drei bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Länder der Europäischen Union machen sich zusammen auf den Weg durch das Kriegsgebiet. Italien, Frankreich und Deutschland sind Mitglied der G7 demokratischer Wirtschaftsmächte, deren Vorsitzender Scholz derzeit ist. Frankreich hat die EU-Ratspräsidentschaft inne. In Kiew stößt noch Iohannis dazu - als Vertreter der osteuropäischen Länder, die sich besonders von Russland bedroht fühlen.

Versteinerte Mine an der Kriegsruine von Irpin

Mit Irpin schaut sich die Vierrergruppe zunächst einen der Vororte an, die zu Kriegsbeginn von der russischen Streitkräften eingenommen wurden. Ähnlich wie im benachbarten Butscha, durch das Scholz auf dem Weg dorthin fährt, wurden in Irpin nach dem Rückzug der russischen Truppen Ende März knapp 300 teils hingerichtete Zivilisten gefunden. Der ukrainische Minister für regionale Angelegenheiten, Oleksij Tschernyschow, führt Scholz und die anderen an der verkohlten Ruine eines Wohnhauses vorbei.

»Das sagt sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist«, sagte Scholz anschließend mit versteinerter Mine. Die Zerstörungen in Irpin seien ein »ganz wichtiges Mahnmal« dafür, dass etwas zu tun sei. Macron umarmt am Ende der Führung Tschernyschow spontan. Solche Worte und Gesten tun den Ukrainern gut.

Aber sie wollen eigentlich etwas anderes von Scholz und Macron: Taten. Zumindest teilweise hat Scholz geliefert. Und er hat bei dieser Reise noch etwas erreicht. Jetzt wird niemand mehr nervige Fragen über eine Reise nach Kiew fragen. Auch das dürfte ihn erleichtern.

© dpa-infocom, dpa:220616-99-686031/5