Nochmals an die Ostflanke der Nato, nochmals zu einem verunsicherten Bündnispartner. Zum Ende des ersten Jahres seiner zweiten Amtszeit besuchte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier soeben Estland. Die Reise stand exemplarisch für seine vergangenen zwölf Monate. Es waren zwölf Monate der Schadensbegrenzung, zwölf Monate der Vertrauensbildung.
Seine zweite Amtszeit - er hatte sie sich wohl etwas anders vorgestellt. Es lohnt sich zurückzuschauen auf den 28. Mai 2021. Damals gab Steinmeier seine Bewerbung für weitere fünf Jahre im Schloss Bellevue bekannt. Er wolle Deutschland auf dem Weg in eine Zukunft nach der Corona-Pandemie begleiten, so begründete er sein Ansinnen damals. »Die Pandemie hat tiefe Wunden geschlagen«, sagte er. »Wir haben uns wundgerieben im Streit um den richtigen Weg. Ich möchte helfen, diese Wunden zu heilen.«
Doch die Agenda wurde eine andere. Wobei die Dinge schon auf der Kippe standen, als Steinmeier am 13. Februar vergangenen Jahres von der Bundesversammlung wiedergewählt wurde. »Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung«, sagte der frisch Gewählte. Und: »Ich appelliere an Präsident Putin: Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine! Suchen Sie mit uns einen Weg, der Frieden in Europa bewahrt!« Der Appell verhallte ungehört. Elf Tage später ließ Kreml-Chef Wladimir Putin seine Panzer rollen. Seitdem befindet sich Deutschland im Krisenmodus - auch sein Staatsoberhaupt.
Schadensbegrenzung nach außen
Zwei Faktoren ließen Deutschlands Ansehen gerade bei seinen östlichen Partnern mit Kriegsbeginn deutlich sinken - zum einen das Festhalten an der Gaspipeline Nord Stream 2 buchstäblich bis zur letzten Minute, zum anderen das Zögern bei militärischer Hilfe für die Ukraine. »Zu spät, zu wenig«, so wurde dort die deutsche Hilfe bewertet. Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Rumänien - Steinmeier reiste fast die ganze Nato-Ostflanke ab und versicherte den Verbündeten ein ums andere Mal wie soeben in Estland: »Deutschland steht zu seiner Verantwortung in der Nato und in Europa.«
Schadensbegrenzung in eigener Sache
Auch wenn er den Angriffskrieg Russlands von Anfang an aufs Schärfste verurteilte, geriet Steinmeier schnell selbst in die Kritik. Hatte er nicht als Kanzleramtschef unter Gerhard Schröder (SPD) und als Außenminister unter Angela Merkel (CDU) die - nun gescheiterte - Russland-Politik maßgeblich mitbestimmt? Alte Fotos von einem fast herzlichen Umgang mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow wurden wieder veröffentlicht. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk führte eine Art Privatfehde gegen Steinmeier.
Nur zögerlich räumte der Bundespräsident Fehler ein: Seine Einschätzung sei gewesen, dass Putin nicht den wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen würde. »Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.« Auch sein Festhalten an Nord Stream 2 sei »eindeutig ein Fehler« gewesen.
Eklat mit Kiew
Zu einer Beruhigung im Verhältnis mit Kiew führte dies nicht. Im Gegenteil. Als Steinmeier Mitte April 2022 zusammen mit den Staatschefs Polens und der drei baltischen Staaten nach Kiew fahren wollte, wurde er kurzfristig ausgeladen - aus Berliner Sicht ein beispielloser politischer Affront. Es dauerte bis zum Oktober, bis Steinmeier dann doch in die Ukraine reiste.
Suche nach neuen Partnern
Diversifizierung - so lautet als Folge des Ukraine-Krieges eine Maxime deutscher Politik. Man könnte auch sagen: Alte Freundschaften aufwärmen, neue knüpfen, einseitige Abhängigkeiten abbauen. Oft wirkte es so, als arbeiteten Bundeskanzler und Bundespräsident dabei Hand in Hand. Deutlich wird das beim Blick auf ihre Reisen. So war Steinmeier etwa zu Neujahr in Brásilia bei der Amtseinführung des neuen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva - Olaf Scholz traf sich mit ihm Ende Januar. Oder: Scholz reiste im April vergangenen Jahres nach Japan, Steinmeier wenige Monate später im November. Im November war Scholz in Singapur, das Steinmeier bereits im Juni besucht hatte.
Innenpolitische Agenda
Der Ukraine-Krieg wurde bald auch bestimmendes Thema für Steinmeiers Arbeit in Deutschland. Er löste die auslaufende Corona-Pandemie ab. Fast schien es, als würden die »tiefen Wunden«, von denen Steinmeier gesprochen hatte, mit dem Wegfall von Lockdowns und Maskenpflicht von allein heilen. Wenn er in seiner neuen Veranstaltungsreihe »Ortszeit Deutschland« seinen Amtssitz jeweils für drei Tage weg aus der Hauptstadt irgendwo ins Land verlegte, um den Menschen zuzuhören, ging es mehr um Kriegsangst und hohe Inflation als um Folgen des Krieges.
Die Dinge nicht schön reden, aber den Menschen zugleich Mut machen - so sieht Steinmeier seine Rolle in dieser schwierigen Zeit. »Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu«, sagte er beispielsweise im Oktober in einer Art Rede an die Nation. Aber auch: »Unser Land hat die Kraft, Krisen zu überwinden.« Der Satz hätte so auch in der ersten Amtszeit zur Pandemie fallen können.
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