Es kommt bei der Münchner Sicherheitskonferenz nicht oft vor, dass Redner mit stehendem Applaus begrüßt werden. Am Samstagnachmittag gibt es einen dieser besonderen Momente, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Bühne im Festsaal des Bayerischen Hofs betritt.
»Ich denke, das gilt nicht mir, sondern der Ukraine und unseren Soldaten«, sagt er auf Englisch. Noch am Morgen hatte es bei den Veranstaltern Zweifel gegeben, ob Selenskyj überhaupt nach München kommen würde. Er könnte stattdessen auch die Front in der Ostukraine besuchen, wo es seit Tagen wieder deutlich mehr Gefechte trotz eines geltenden Waffenstillstands gibt. Dort kämpfen prorussische Separatisten und ukrainische Regierungstruppen. Dörfer werden beschossen, Wohnhäuser in Schutt und Asche gelegt, beide Seiten melden am Wochenende Tote.
Selenskyj: Die Welt muss handeln
Selenskyj entscheidet sich für München, wo sich diejenigen versammelt haben, auf die er setzt - die Staats- und Regierungschefs, Verteidigungs- und Außenminister der Nato. Er berichtet von Kratern in Spielplätzen, warnt vor Millionen Toten und fordert Solidarität ein. Die Weltgemeinschaft könne nicht mehr einfach sagen, das sei nicht ihr Krieg. »Jetzt muss gehandelt werden, die Welt muss handeln, nicht die Ukraine«, sagt der Präsident.
Im Blick hat er dabei die Befürchtung, dass Russland den Konflikt in der Ostukraine als einen Vorwand für einen Angriff auf die ganze Ukraine nutzen könnte. Etwa 150.000 russische Soldaten stehen dafür nach Einschätzung westlicher Geheimdienste derzeit bereit.
Putin lässt atomwaffenfähige Raketen abfeuern
Die Welt muss handeln, aber wie? Das weltweit wichtigste Expertentreffen für Sicherheitspolitik ist eigentlich genau der richtige Ort, um eine solche Frage zu erörtern. Das Problem: Eine Konfliktpartei fehlt. Russland hat seine Teilnahme an der Münchner Sicherheitskonferenz abgesagt. Das Treffen habe seine Objektivität verloren, heißt es zur Begründung.
Während Selenskyj, Bundeskanzler Olaf Scholz und US-Vizepräsidentin Kamala Harris in München reden, sitzt der russische Präsident Wladimir Putin am Samstag im Kreml und lässt Raketen auf Übungsplätzen im Süden und ganz im Osten Tausende Kilometer entfernt abfeuern, die mit Atomsprengköpfen ausgerüstet werden können.
Mit dabei: der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko. Also derjenige Mann, der es Russland ermöglichen könnte, die Ukraine nicht nur von Osten und Süden aus, sondern auch von Norden aus anzugreifen. Mehrere Zehntausend russische Soldaten sind nach Nato-Schätzungen derzeit für ein Manöver in Belarus. Sie sollte eigentlich an diesem Sonntag enden. Es soll nun trotzdem weiter geübt werden, gemeinsam.
»Drehbuch russischer Aggression«
Die Ukraine und der Westen bleiben in München also unter sich. Der Ton für die Konferenz wird kurz vor Beginn von Washington aus gesetzt. »Wir haben Gründe zu glauben, dass das russische Militär plant und vorhat, die Ukraine in der kommenden Woche, in den kommenden Tagen, anzugreifen«, sagt dort US-Präsident Joe Biden. Der Satz hängt drei Tage lang wie eine schwarze Wolke über der Konferenz.
US-Vizepräsidentin Kamala Harris nimmt die Warnung auf und spricht von einem »Drehbuch russischer Aggression«. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz mahnt: »In Europa droht wieder ein Krieg.« Neue Ideen, wie man die Katastrophe noch abwenden kann, sind in München nicht zu vernehmen, es herrscht Ratlosigkeit. Der Westen bleibt bei seiner Doppelstrategie: Einerseits droht er Russland für den Fall eines Angriffs nie dagewesene Sanktionen an, andererseits beteuert er, bereit für Gespräche über Russlands Forderungen nach »Sicherheitsgarantien« zu sein.
Das Problem dabei ist nur, dass eine Einigung auf echte Zugeständnisse an Moskau ausgeschlossen zu sein scheint. So erntete Kanzler Scholz zuletzt schon Kritik dafür, dass er Putin in aller Öffentlichkeit versicherte, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine stehe derzeit nicht auf der Tagesordnung. Ein Verzicht auf die Aufnahme des Landes in das Militärbündnis ist ein Kernanliegen Putins - neben zum Beispiel dem Rückzug von US-Atomwaffen aus Europa und einem Stationierungsverbot für Nato-Truppen in Ländern nahe der russischen Grenze.
Ende der Olympischen Waffenruhe
Sehr weit weg von München gab es am Wochenende noch ein Ereignis, das die Sorge vor einem Krieg wachsen lässt. In Peking fand fast gleichzeitig mit dem Ende der Sicherheitskonferenz nach zwei Wochen die Abschlussfeier der Olympischen Spiele statt. Damit endet vorerst auch das, was man den Olympischen Frieden nennt. Er ist ein auch von Russland unterstütztes Prinzip, nach dem es während der gesamten Dauer der Spiele keine Feindseligkeiten geben soll.
Einer der wenigen Hoffnungsschimmer in der aktuellen Lage ist das Engagement von Emmanuel Macron. Der französische Präsident setzte über das Wochenende hinweg Vermittlungsbemühungen fort und sprach sowohl mit Putin als auch mit Selenskyj. Hilfreich könnte dabei sein, dass Macron den Ruf hat, der Nato und auch den USA eher kritisch gegenüberzustehen. Unvergessen dürfte so bei Putin sein, dass der Franzose das Verteidigungsbündnis in den vergangenen Jahren wegen interner Konflikte und unzureichender Absprachen mehrfach als hirntot bezeichnet hatte.
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