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Selenskyjs Kampf gegen Kriegsmüdigkeit

Vor Beginn des dritten Jahres des russischen Angriffskriegs steckt die Ukraine militärisch in einer Sackgasse. Der Druck auf Selenskyj wächst. Können er und das Land den Kampf 2024 gewinnen?

Wolodymyr Selenskyj
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj steht innenpolitisch und außenpolitisch unter Druck. Foto: Efrem Lukatsky/DPA
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj steht innenpolitisch und außenpolitisch unter Druck.
Foto: Efrem Lukatsky/DPA

Für den von fast zwei Kriegsjahren gezeichneten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dürfte 2024 das Schicksalsjahr werden. Zwar kann der 45-Jährige trotz Russlands Invasion stolz auf den Beginn der Verhandlungen für einen EU-Beitritt verweisen. Aber der vor einem Jahr versprochene Sieg über Moskaus Invasion ist nicht in Sicht.

Die Gegenoffensive der Streitkräfte zur Befreiung der von Russland besetzten Gebiete gilt als gescheitert. Von einem Stellungskrieg, einem Patt, einer Sackgasse ist im zweiten Kriegswinter die Rede. Und auch die Solidarität im Westen für das um sein Überleben kämpfende Land bröckelt.

Russland kontrolliert weiter rund ein Fünftel des Staatsgebiets der Ukraine. Zehntausende Menschen sind getötet worden in diesem schlimmsten Blutvergießen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Damit wächst der Druck auf Selenskyj nicht nur im Land selbst, sondern auch international, Ergebnisse zu liefern.

Doch Selenskyj gibt sich kämpferisch. »Die Ukraine wird ihre Stärke und ihre Freiheit nicht verlieren«, betonte er Ende November. »Am Ende wird die Dunkelheit verlieren. Das Böse wird besiegt«, sagte er in seiner Weihnachtsbotschaft. Der Präsident warnt vor Kriegsmüdigkeit oder gar vor einem Einfrieren des Konflikts, weil dies nur Russland helfe, militärisch wieder stärker zu werden.

Vor allem aber ist Selenskyj trotz zunehmender Rufe nach Verhandlungen weiter fest entschlossen, den Konflikt auf dem Schlachtfeld auszutragen. Er will Russland möglichst eine strategische Niederlage zufügen, das Land so sehr schwächen, damit es niemals wieder eine solche Aggression lostreten könne. »Russlands Niederlage bedeutet Sicherheit für Europa«, sagte er.

Schwere Zeiten für Selenskyj - Kiew ringt um weitere Hilfe

Für einen Sieg sind Selenskyj und die Ukraine allerdings weiter auf internationale Hilfe angewiesen. Und die schwindet - auch wegen des Gaza-Krieges, der viel Aufmerksamkeit der USA und anderer Verbündeter von der Ukraine abzieht. Auch die US-Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr legt sich bereits jetzt wie ein Schatten über die Unterstützung im Krieg. Anhänger des ins Amt strebenden Ex-Präsidenten Donald Trump unter den Republikanern blockieren die neuen, dringend im Abwehrkampf benötigten finanziellen und militärischen Hilfspakete für das Land.

Die Europäische Union soll einspringen, kann aber die USA bisher weder bei der Munitionslieferung noch beim Geld ersetzen. Dem Präsidenten bereitet das Sorgen. Hinzu kommen Probleme im eigenen Land, etwa beim Kampf gegen die Korruption, bei der Gewährleistung der Energiesicherheit im Winter und bei der Mobilisierung von Soldaten für den Krieg. Seit langem verlangen die Kommandeure mehr Personal an der Front, um die westlichen Waffen zu bedienen. Aber Selenskyj zaudert - auch weil die geforderten bis zu 500.000 Soldaten Milliardenkosten verursachen.

Noch vor einem Jahr kürte das US-Magazin »Time« Selenskyj zur Person des Jahres 2022. Inzwischen bescheinigen ihm frühere Weggefährten Selbstherrlichkeit, Beratungsresistenz und einen zunehmend autoritären Führungsstil. In der Ukraine entstehe unter Selenskyj keineswegs eine »offene liberale Gesellschaft nach amerikanischem Vorbild«, sagte unlängst der Ex-Berater im Präsidentenbüro, Olexij Arestowytsch. Vielmehr ähnele sie einem mit US-Waffen vollgepumpten »ultranationalistischen Staat«.

Im Herbst 2023 fand im politischen Kiew die »Time«-Titelgeschichte »Der einsame Kampf von Wolodymyr Selenskyj« besonders viel Beachtung. Die Recherche legte den wachsenden Unmut über den Präsidenten in dessen Umfeld offen - und attestierte dem früheren Schauspieler Realitätsverlust, das Leben in einer Scheinwelt. Selenskyj fühle sich verraten vom Westen, der nicht genug Waffen gebe, um den Krieg zu gewinnen; er gebe nur so viel, damit das Land überlebe, hieß es.

Klagen über Selenskyj im Alltag und politische Machtspiele in Kiew

Über Kritik an Selenskyj ist in Kiews Medien nur wenig zu vernehmen, sie demonstrieren Geschlossenheit und fügen sich der Kriegszensur. Dabei sind die Klagen über den Staatschef längst im Alltag zu hören. Viele Ukrainer kritisieren bis heute, Selenskyj habe die Gefahr eines Krieges vor Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar 2022 heruntergespielt und auch schon vorher nichts für ein starkes Militär getan. Er habe die Menschen trotz US-Warnungen vor Moskaus Invasion ins offene Messer laufen lassen. Andere sind enttäuscht, weil Selenskyj bei seinem Amtsantritt 2019 Frieden versprochen hatte.

Vor dem zweiten Jahrestag des von Russlands Präsidenten Wladimir Putin losgetretenen Krieges besteht Selenskyj weiter auf die Umsetzung seiner »Friedensformel«. Ihr Kern ist die Forderung nach einem kompletten russischen Truppenabzug aus der Ukraine. Moskau lehnt dies als »unrealistisch« ab, weil ein Rückzug als Kapitulation Putins angesehen würde. Auch deshalb stellen sich Kiew und Moskau auf eine Fortsetzung der Kampfhandlungen in 2024 ein.

Während Putin inzwischen seine Kriegswirtschaft auf Hochtouren laufen lässt, auf Hunderttausende Freiwillige setzt, gilt die Ukraine ohne ausländische Hilfe schon länger nicht mehr als überlebensfähig. Für seinen Kampf setzt Selenskyj, der als glänzender Redner gilt und die westlichen Verbündeten mit seiner Emotionalität oft mitreißt, auch auf die Kraft des Wortes. »Wenn es keinen Sieg gibt, dann wird es kein Land geben«, sagte er im November.

Walerij Saluschnyj
Der Oberkommandierende der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, ist mit Präsident Selenskyj nicht immer einer Meinung. Foto: Ukrainian Presidency/DPA
Der Oberkommandierende der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, ist mit Präsident Selenskyj nicht immer einer Meinung.
Foto: Ukrainian Presidency/DPA

Kritik an seiner Kriegsführung lässt der frühere Komiker nicht gelten. Das zeigte er zuletzt auch, als er den Oberkommandierenden der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, zurechtwies. Schon lange werden Saluschnyj politische Ambitionen nachgesagt. In Kiew heißt es, der Kampf um die Macht sei in dem in die EU und in die Nato strebenden Land schon wieder voll im Gange. Nicht nur Saluschnyj, sondern auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, der Selenskyj Fehler und Lügen vorwarf, könnten dem Präsidenten bei einer Wahl gefährlich werden.

Ukrainer zeigen ungebrochenen Willen zum Sieg

Doch die eigentlich für Anfang März geplante Präsidentenwahl fällt wegen des weiter geltenden Kriegsrechts aus. Anfang November betonte Selenskyj, »dass Wahlen jetzt nicht angebracht sind«. Statt politischer Spalterei sollten die Ressourcen vielmehr auf »unseren Sieg« über Russland gerichtet werden. Der Glaube an den Sieg über Russland und die Rückkehr zu den Grenzen von 1991 scheint indes unter den Ukrainern mit fast 70 Prozent weiter ungebrochen, wie Umfragen zeigen. Einen freiwilligen Verzicht auf Gebiete lehnen sie ab.

Nach den Erfolgen von Kiews Truppen im vorigen Jahr ist aber die Euphorie bei einigen verflogen. Rund ein Drittel der Bevölkerung sieht mehreren Befragungen zufolge die Dinge in der Ukraine sich in eine falsche Richtung entwickeln. Selenskyj etwa ließ Fernsehsender schließen; er entzog unliebsamen Landsleuten die Staatsbürgerschaft. Das Kriegsrecht gibt ihm zudem Instrumente in die Hand, die sich nicht nur gegen den russlandfreundlichen Teil der Opposition richten. Das Demonstrationsrecht ist eingeschränkt. Parlamentsdebatten laufen unter Verweis auf die Sicherheit hinter verschlossenen Türen ab.

»Von einer Ausgewogenheit der Gedanken und Meinungsfreiheit kann keine Rede sein«, beklagte die Parlamentsabgeordnete Iryna Heraschtschenko bei Telegram. Die Vertreter der zweitgrößten Parlamentsfraktion der Partei Europäische Solidarität des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko seien mit vier Prozent im Fernsehen unterrepräsentiert und würden meist nur im negativen Licht dargestellt, sagte sie. Auch westliche Unterstützer mahnen Kiew im Hintergrund, wieder mehr Medienfreiheit zuzulassen.

Kiew lehnt Kompromisse im Krieg mit Russland ab

Laut Meinungsforschern färbt all das nicht zuletzt auf die Zustimmungswerte für Selenskyj ab. Die Unterstützung für seine Politik lag laut Umfragen im September bei 42 Prozent - nach 74 Prozent im April 2022, als die Ukraine den ersten Rückzug russischer Truppen bei Kiew erlebte.

Kompromisse aber schließt der Staatschef weiter aus und beteuert bei jeder Gelegenheit: »Niemand glaubt so sehr an unseren Sieg wie ich.« Er verspricht für 2024 neue Pläne, die Moskau überraschen und empfindlich treffen würden. Und er hofft auf neue Milliarden der EU und der USA. Dazu sollen die im Frühjahr erwarteten Kampfjets vom US-Typ F-16 vor allem die russische Luftüberlegenheit brechen helfen.

Der Chef von Selenskyjs Präsidentenbüro, Andrij Jermak, der als graue Eminenz in Kiew gilt, erwartet, dass 2024 zum »entscheidenden Jahr« für die Ukraine wird. »Der Wendepunkt des Krieges nähert sich«, unterstrich er in einem Interview des TV-Senders 1+1. Jermak verglich den Krieg zuletzt mehrfach mit einem 100-Meter-Lauf, bei dem schon 70 Meter zurückgelegt seien. Die letzten Meter seien aber die schwersten, räumte er ein.

Dagegen hat sich Russland längst auf einen Marathon eingestellt, den es um jeden Preis gewinnen will. Das Portal »Politico« erinnerte kürzlich aber auch daran, dass Selenskyj schon bei Kriegsausbruch nicht weggelaufen sei und auch das Zeug zum »Marathonläufer« habe.

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