BERLIN. »Im Zweifel Zugriff«, beschreibt CDU-Innenpolitiker Armin Schuster die aktuelle Haltung der deutschen Sicherheitsbehörden. Das sei nicht immer so gewesen, sagt der Obmann im Innenausschuss des Bundestages.
Nach dem Terror in Paris, in Brüssel, London, Nizza und Berlin ist man auch hierzulande noch vorsichtiger geworden. Am 12. Juni 2018 wird im Kölner Stadtteil Chorweiler, in direkter Nachbarschaft des Bundesamtes für Verfassungsschutz, ein 29 Jahre alter Tunesier festgenommen. Sief Allah H. soll in dem Hochhaus, in dem er mit seiner Familie wohnte, hochgiftiges Rizin hergestellt haben. Am 22. August 2018 nehmen Spezialkräfte in Berlin-Buch einen 31-jährigen Tschetschenen fest, nachdem ein Tipp aus Frankreich eingegangen ist.
Die Spur zu Magomed-Ali C., der den Deutschen bereits als islamistischer Gefährder bekannt ist, führt über den inzwischen in Frankreich einsitzenden Clément B. Er soll 2016 gemeinsam mit dem russischen Staatsbürger in Berlin Sprengstoff gehortet und einen Anschlag vorbereitet haben. Mit im Bunde ist damals nach Einschätzung des Generalbundesanwalts Anis Amri, der spätere Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz. Aus dem Sprengstoffanschlag wird nichts, weil die Polizei Magomed-Ali C. am 28. Oktober 2016 einen Hausbesuch abstattet, um ihm zu sagen, dass man ihn auf dem Schirm habe.
»In Deutschland gab es in den letzten zwei Jahren sechs konkret geplante Anschläge, die von den Sicherheitsbehörden verhindert werden konnten«, sagt der Chef des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, vor kurzem dem »Tagesspiegel«.
Aktuell stufen die deutschen Sicherheitsbehörden etwa 767 Menschen als islamistische Gefährder ein - darunter 33 Frauen und Mädchen. Etwa die Hälfte von ihnen ist derzeit im Ausland. Mehr als 150 Gefährder sind in Haft. Als »Gefährder« bezeichnet die Polizei Menschen, denen sie einen Terroranschlag grundsätzlich zutraut.
Sie werden jedes Jahr mehr, was die Sicherheitsbehörden vor große Probleme stellt. Allerdings ist ihre Zahl zuletzt etwas langsamer gestiegen. Das mag auch daran liegen, dass die militärischen Niederlagen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bei einigen Dschihadisten für eine gewisse Ernüchterung gesorgt haben.
»Die Fähigkeit des IS, größere Anschläge vorzubereiten und zu koordinieren, ist aufgrund der Gebietsverluste in Syrien und dem Irak nicht mehr so groß wie noch 2015 und 2016«, sagt Münch. »Andererseits sind Anschläge von Einzeltätern oder Kleingruppen, beispielsweise mit Fahrzeugen, Schusswaffen oder Messern nach wie vor eine ernstzunehmende Bedrohung« - und schwerer im Vorfeld erkennbar.
Ernüchterung gab es auch in der deutschen Öffentlichkeit, als klar wurde, dass der abgelehnte Asylbewerber Amri von den Behörden weder aus dem Verkehr gezogen noch nach Tunesien abgeschoben wurde, obwohl er schon Anfang 2016 in engem Kontakt mit zahlreichen gewaltbereiten Salafisten im In- und Ausland stand, verschiedene Identitäten benutzte und mehrfach über seinen Wunsch sprach, einen Anschlag zu verüben. Einige Male war der Gefährder Thema im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern (GTAZ). Der Fall offenbarte die größte Schwäche der GTAZ-Konstruktion: Hier fließt zwar viel Wissen zusammen. Doch bei einem wie Amri, der in mehreren Bundesländern als Drogendealer und radikaler Islamist unterwegs ist, greift das Prinzip der geteilten Zuständigkeit, die letztlich zu gemeinschaftlicher Verantwortungslosigkeit führen kann.
»Ein engerer Austausch zwischen Polizeibehörden und Verfassungsschutz wäre wünschenswert«, meint der Journalist Rolf Tophoven, der sich viel mit Terrorismus beschäftigt hat. »Häufig wünscht man sich auch bei terroristischen Vorfällen - siehe Anis Amri - eine zuständige zentrale Behörde, zum Beispiel eine zupackende Staatsanwaltschaft, die das Verfahren im Vorfeld an sich reißt und führt.«
Das Konzept »Lieber Zugreifen« kam zuletzt auch im rechtsextremistischen Milieu zum Tragen. Im Herbst gab die Bundesanwaltschaft die Festnahme von acht mutmaßlichen Mitglieder einer Gruppe aus Sachsen bekannt, die sich »Revolution Chemnitz« nennt. Sie soll Ausländer angegriffen und weitere Attacken auf politisch Andersdenkende geplant haben.
»Natürlich trägt ein gesellschaftliches Klima mit dazu bei. Das hatten wir beim NSU in den 90er Jahren erlebt. Das erleben wir jetzt wieder mit dem Aufkommen von rechtspopulistischen Bewegungen wie der AfD«, sagt Benjamin Strasser, Obmann der FDP im Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz. Er stellt fest, »dass bestimmte Dinge plötzlich sagbar werden und dass natürlich Radikale sich auch bestätigt fühlen, und auf Worte auch Taten folgen lassen«.
Schuster glaubt, durch die AfD, die Identitäre Bewegung, Reichsbürger und andere habe sich ein »Sound entwickelt«, der »brandgefährlich« sei, weil sich Gewalttäter dadurch ermuntert fühlen könnten. »Wenn ein Herr Gauland oder eine Frau Weidel oder wer auch immer in einem Deutschen Bundestag systemumstürzlerische Formulierungen benutzt, wie zum Beispiel «die Kanzlerin jagen», «die Altparteien überwinden», «das System überwinden», dann ist das ja nah an einer extremistischen Sprache.« Er frage sich deshalb, »ob die Höckes dieser Welt sich überhaupt bewusst sind, wie brandgefährlich das ist«.
Auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums hat sich mit der AfD etwas verändert. Nach Einschätzung von Experten erleichtert ihr Auftauchen als neues Feindbild die Mobilisierung der extremistischen Linken. In jüngsten Schätzungen für 2017 geht der Verfassungsschutz von 9000 »gewaltorientierten Linksextremisten« aus. Ziel sind häufig Vertreter der Staatsgewalt oder deren Ausrüstung. Von »Linksterrorismus« ist im Verfassungsschutzbericht aber nicht die Rede.
Der Generalbundesanwalt, der beim Verdacht auf schwerste Straftaten tätig wird, leitete 2017 bis zum Zeitpunkt der Auskunft Ende November 959 Verfahren mit Bezug zu islamistischem Terrorismus ein und sechs Verfahren mit Bezug zu Rechtsterrorismus, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht. Zwei Verfahren hatten eine Verbindung zu internationalem Linksterrorismus. (dpa)