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»Sea-Watch 3«-Kapitänin verteidigt sich: »Ich hatte Angst«

Eine deutsche Kapitänin bringt 40 Migranten unerlaubt nach Italien. Ist sie kriminell oder beispiellos menschlich? Der jüngste Rettungseinsatz von Sea-Watch scheint niemanden kalt zu lassen.

Rom (dpa) - Die deutsche Kapitänin des Rettungsschiffs »Sea-Watch 3« hat sich nach ihrer Festnahme in Italien verteidigt: »Die Situation war hoffnungslos«, sagte die 31-jährige Carola Rackete über ihre Anwälte der italienischen Tageszeitung »Corriere della Sera«.

»Und mein Ziel war es lediglich, erschöpfte und verzweifelte Menschen an Land zu bringen«. »Ich hatte Angst«, sagte die Kapitänin. Sie habe Suizide befürchtet. Rackete hatte das Schiff mit 40 Migranten in der Nacht zum Samstag unerlaubt in den Hafen von Lampedusa gesteuert und war festgenommen worden. Ihr drohen eine Geldstrafe, mehrere Anklagen und im schlimmsten Fall Haft.

In Deutschland sorgte die Festnahme für Kritik. Der italienische Innenminister Matteo Salvini erhob dagegen schwerste Vorwürfe gegen Rackete. In Vergessenheit geriet dabei fast, dass die Migranten nach mehr als zwei Wochen auf dem Mittelmeer an Land gehen konnten.

Nach 17 Tagen auf See lagen die Nerven bei der Crew und den Geretteten blank: Die Odyssee der »Sea-Watch 3« hatte am 12. Juni begonnen, als die Seenotretter der deutschen Hilfsorganisation vor Libyen 53 Bootsflüchtlinge an Bord nahmen. Wenige Stunden zuvor hatte das Kabinett in Rom sich auf eine drastische Verschärfung der Regeln für die Helfer verständigt. Ein umstrittenes Sicherheitsdekret stellt das unerlaubte Einfahren privater Schiffe in Italiens Gewässer unter eine satte Geldstrafe.

Sea-Watch ließ sich nicht davon abhalten und fuhr mit den Geretteten in Richtung Italien. Nach tagelangem Warten an der Seegrenze sah sich die Kapitänin Mitte vergangener Woche gezwungen, die »Sea-Watch 3« auf Lampedusa zuzusteuern. Dann traf die 31-Jährige eine weitere folgenschwere Entscheidung, obwohl sich eine Lösung für die Migranten abzeichnete: Deutschland und andere EU-Staaten hatten sich bereiterklärt, die Schutzsuchenden aufzunehmen. Rackete fuhr das Schiff in den Hafen - und stieß dabei auch noch mit einem Boot der Finanzpolizei zusammen. »Das war ein Fehler«, räumte Rackete ein.

Für Innenminister Salvini ist die Aktion der Beweis, dass die Seenotretter »Kriminelle« seien. »Sie haben die Maske abgelegt: Das sind Verbrecher«, sagte Salvini - und ging so weit, Sea-Watch vorzuwerfen, den Tod der italienischen Ordnungskräfte riskiert zu haben. »Es ist schön, dass sie sagen, wir retten Leben, (dabei) haben sie fast Menschen getötet, die ihre Arbeit gemacht haben.«

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) schaltete sich am Samstag via Twitter ein: »Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden. Es ist an der italienischen Justiz, die Vorwürfe schnell zu klären.« Menschenleben zu retten, sei eine humanitäre Verpflichtung.

Aus Deutschland erreichte die Kapitänin eine Welle der Solidarität. Die Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf riefen zu Spenden für die Seenotretter auf - bis zum frühen Sonntagnachmittag kamen bereits mehr als 400 000 Euro zusammen. »Mit den Ereignissen der letzten Tage hat diese unmenschliche, kaltblütige und skrupellose Politik einen neuen Tiefpunkt erreicht«, sagte Böhmermann.

Am Sonntag äußerte sich sogar Siemens-Chef Joe Kaeser zu dem Fall. »Menschen, die Leben retten, sollten nicht festgenommen werden. Menschen, die töten, die Hass und Leid säen und fördern, sollten es«, twitterte der Manager. Kaeser ist bekannt dafür, sich als einer der wenigen Top-Manager immer mal wieder auch zu politischen Vorgängen zu äußern.

»Der eigentliche Skandal ist das Ertrinken im Mittelmeer, sind die fehlenden legalen Fluchtwege und ein fehlender Verteilmechanismus in Europa«, sagte Grünen-Chef Robert Habeck dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Europaabgeordnete der Linken, Özlem Demirel, erklärte: »Carola Rackete gehört nicht hinter Gitter, sondern verdient einen Orden für ihre Courage und Menschlichkeit.« Der Parteivorstand der Linken forderte die Bundesregierung auf, die Geretteten in Deutschland aufzunehmen.

Menschenleben müssten auf jeden Fall und egal auf welche Weise gerettet werden, sagte auch Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin laut Vatican News. Dies müsse »der Polarstern sein, der uns leitet, alles andere ist zweitrangig«. Parolin wird auch als Außenminister des Papstes bezeichnet.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, nannte Racketes Festnahme »eine Schande für Europa«. »Eine junge Frau wird in einem europäischen Land verhaftet, weil sie Menschenleben gerettet hat und die geretteten Menschen sicher an Land bringen will«, erklärte der Landesbischof. Dies mache ihn traurig und zornig.

Der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Bijan Djir-Sarai, hält die Festnahme Racketes hingegen für gerechtfertigt. »Sie wird trotz edler Motive für diese illegale Aktion die Verantwortung übernehmen müssen«, sagte Djir-Sarai der »Welt« und nannte Außenminister Maas »arrogant und hochnäsig«. Deutschland habe Italien im Kampf gegen illegale Einwanderung alleine gelassen.

Wie es langfristig für Sea-Watch weitergeht, ist unklar. Vorerst verliert die Organisation ihr Rettungsschiff - nicht das erste Mal. Am Samstag wurde es aus dem Hafen von Lampedusa gefahren und sollte Salvini zufolge in einen anderen Hafen gebracht werden. Der Kapitänin, die nun Star und Feindbild zugleich ist, drohen mehrere Anklagen, unter anderem wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung und Verletzung des Seerechts. Sie steht unter Hausarrest. Für Montag wird ihre Vernehmung und eine mögliche Bestätigung des Haftbefehls erwartet.

»Die Linie der Strenge der italienischen Regierung dieser Tage hat geholfen, Europa aufzuwecken«, gibt sich Salvini sicher. Einen Mechanismus zur Verteilung der Bootsflüchtlinge hat die EU dadurch längst nicht gefunden. Während der Streit um die Seenotrettung eine neue Eskalationsstufe erreicht, sind zwei Rettungsschiffe auf dem Weg ins Mittelmeer vor Libyen. An die deutsche Organisation Sea-Eye und die spanische Proactiva Open Arms gerichtet sagte Salvini: »Macht was ihr wollt, aber haltet uns nicht mehr zum Narren.«

Salvini auf Facebook, Italienisch

Sea-Watch auf Twitter

Video Salvini Facebook

Video Zusammenstoß Sea-Watch und Finanzpolizei

Tweet Heiko Maas

Aussagen Carola Rackete Corriere della Sera, Italienisch

Tweet Kaeser

Youtube-Video Böhmermann und Heufer-Umlauf

Tweet von Klaas Heufer-Umlauf

Spendenaktion Böhmermann

Bericht Vatican News mit Aussagen Parolin