Als unsportliches Kind hat Olaf Scholz viel gelesen - da dürfte es dem Kanzler nicht schwer gefallen sein, sich an das sprechende, weiße Kaninchen von »Alice im Wunderland« zu erinnern. In dieses fantasievolle Buch fühle er sich versetzt, wenn er Oppositionsführer Friedrich Merz zuhöre, sagte der SPD-Politiker am Mittwoch im Bundestag. »Was in Wahrheit groß ist, das reden Sie klein. [...] Und was zunächst logisch klingt, ist in Wahrheit blanker Unsinn.« Scholz und der CDU-Chef lieferten sich einen verbalen Schlagabtausch über den richtigen Krisenkurs für Deutschland - und die ersten elf Monate Ampel-Politik.
Die Debatte zum Haushalt des Kanzleramts nutzt die Opposition traditionell zu einer Generalabrechnung mit der Regierungspolitik. So legte Unionsfraktionschef Merz vor und warf der Ampel »handwerklich miserables Regierungshandeln« vor. »Sie können es vielleicht nicht besser. Das ändert sich wahrscheinlich auch nicht«, sagte er. Die Regierung habe Fehler bei der Krisenbewältigung gemacht. Scholz konterte: »Eine Krise, von der wir heute sagen können: Unser Land hat sie im Griff.«
Ganz so angriffslustig wie bei der vergangenen Generaldebatte im September zeigten sich die beiden nicht. Damals war Merz hart mit der Ampel-Koalition ins Gericht gegangen. Scholz hatte sein Manuskript zur Seite gelegt und sich frei sprechend Luft gemacht. Diesmal fehlte dem Oppositionsführer offenkundig an manchen Stellen der Ansatz. Wichtige Streitfragen hatten Ampel und Union am Vortag ausgeräumt: Es gab eine Einigung beim Bürgergeld. Die Winterlücke bei Hilfen gegen die hohen Energiepreise wurde geschlossen. Die Preisbremsen sollen rückwirkend auch für Januar und Februar gelten.
So hatte der Kanzler diesmal kaum einen Grund, seinen vorbereiteten Redetext zu verwerfen: Ein Schnelldurchgang durch die wichtigsten der fast 100 Gesetze in fast einem Jahr rot-grün-gelber Bundesregierung. Mehr Mindestlohn, mehr Kindergeld, mehr Wohngeld. »Sie reden von Entlastungen, aber stimmen dagegen. Wir setzen Entlastungen um«, sagte er an die Union gerichtet.
Scholz: Energiesparen bleibt wichtig
Scholz verwies auf volle Gasspeicher, Flüssiggasterminals, neue Lieferverträge, das Wiederanlaufen der Kohlekraftwerke, den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken und die geplanten Energiepreisbremsen. Für diesen Winter sei Deutschlands Energiesicherheit »wohl« gewährleistet. Trotzdem bleibe Energiesparen wichtig.
Eindringlich wurde Scholz immer dann, wenn er spontan reagierte. Die Ampel-Regierung habe in nicht einmal zwölf Monaten mehr in Gang gesetzt, als die Regierungen der vergangenen zwölf Jahre. Nicht seine Koalition sei das Problem im Land. »Wer das glaubt, glaubt auch an sprechende, weiße Kaninchen«, sagte der Kanzler. »Willkommen im CDU-Wunderland, wo die Realität auf dem Kopf steht.«
Der literarische Konter kam nicht von Merz, sondern vom CSU-Politiker Alexander Dobrindt, der ebenfalls ein Kinderbuch bemühte: »Mir fällt ehrlich bei dieser Bundesregierung nur eins ein: Jim Knopf und der Scheinriese.« Je näher man der Bundesregierung komme, desto kleiner würden die politischen Leistungen.
Scholz sah man auf der Regierungsbank bei solchen Äußerungen keine Regung an - seinem Vizekanzler, Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) schon. Sie steckten die Köpfe zusammen, schmunzelten, ganz so, als hätten sie in den vergangenen Wochen nicht auch harte politische Kämpfe miteinander ausgefochten.
Bartsch: Viele fühlen sich nicht beschützt und unterstützt
Scholz bescheinigte seiner Ampel und ausdrücklich diesen beiden Ministern dann auch zupackende Arbeit und einen Geist der Erneuerung. Ein bloßes »Weiter so« sei keine Option. Mit Blick auf Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) ätzte er: »Die Partei des «Weiter so» sitzt jetzt in der Opposition. Und da gehört sie auch hin.«
Merz dagegen sah die Regierung »im ständigen Streit ihrer Ressortminister« versinken. So verliere die Politik immer mehr Vertrauen der Bevölkerung. Es fehle eine große, die Menschen mitreißende Rede von Scholz, »die die besten Kräfte unseres Landes mobilisiert«.
Auch die Linke warf der Ampel Chaos und unzureichende Hilfen für die Bevölkerung vor. »Viele Menschen fühlen sich nicht beschützt und unterstützt«, sagte Fraktionschef Dietmar Bartsch. Statt eines großen Schutzschirms gebe es »Wellness für die Wohlhabenden und unterlassene Hilfeleistung« für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger.
AfD-Fraktionschefin Alice Weidel warf der Ampel-Koalition vor, das Land in den Ruin zu führen. »Ihre Politik zerstört Deutschland«, sagte sie. »Zwölf Monate Ampel, das sind zwölf Monate mutwillige Zerstörung unserer Wirtschaft und unseres Wohlstandes, zwölf Monate Gängelung, Bevormundung und Schröpfen der Bürger, zwölf Monate Politik einer Regierung, die Einschränkungen predigt, während sie selbst aus dem Vollen schöpft.«
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