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»Schicksalswahl« in Türkei - Wie stimmen die Deutsch-Türken?

Rund 1,5 Millionen Deutsch-Türken können bundesweit ihre Stimme für die Wahlen in der Türkei abgeben. Erdogan steht unter Druck - kann er wie gewohnt auf gute Ergebnisse im Ausland zählen?

Türkei-Wahlen
Wahlberechtigte Türkin vor dem Türkischen Generalkonsulat in Hamburg, wo sie für die Wahlen in ihrem Heimatland abstimmen können. Foto: Marcus Brandt
Wahlberechtigte Türkin vor dem Türkischen Generalkonsulat in Hamburg, wo sie für die Wahlen in ihrem Heimatland abstimmen können.
Foto: Marcus Brandt

Die deutsch-türkischen Wählerinnen und Wähler bilden schon am Morgen eine lange Schlange. »Es ist eine Freude, ein Gefühl von Euphorie, schon am ersten Wahltag dabei zu sein«, sagt Dogan Sener, der seine Stimme für die türkische Parlaments- und Präsidentschaftswahl abgeben möchte.

Im Kölner Generalkonsulat, das im angrenzenden Hürth liegt, füllen sich am Donnerstag die gläsernen Wahlurnen mit vielen Stimmzetteln. »Ich wähle aus Zugehörigkeitsgefühl mit meinem Vaterland und Volk. Ich hoffe, dass es so weitergeht wie bisher in meinem Land, in dem es so schön ist«, schildert der 62-jährige Sener, der in Köln aufgewachsen ist. Rund 1,5 Millionen Deutsch-Türken sind in Deutschland wahlberechtigt, davon gut 500.000 in NRW.

Sabri Ayyildib ist überrascht von dem enormen Andrang im angebauten Wahlzelt. Jeder kann zwei Kreuzchen machen - und entscheidet damit mit über Ab- oder Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. »Diesmal wird es knapp für Erdogan«, glaubt Ayyildib. Dazu werde die Erdbebenkatastrophe im Februar beitragen. »Die Wirtschaft in der Türkei müsste angekurbelt werden«, findet eine Studentin. Die 23-Jährige - ihren Namen möchte sie nicht nennen - fühlt sich an beide Länder gebunden und wartet geduldig, bis sie im Wahllokal in Hürth an der Reihe ist.

In der Türkei sorgen sich die Menschen unterdessen um Erdogans Gesundheit. Am Dienstagabend musste der Präsident ein TV-Interview wegen Magenproblemen abbrechen, er legte anschließend eine Wahlkampfpause ein. Der Gesundheitsminister gab am Donnerstag aber Entwarnung und sagte, Erdogan sei auf dem Weg der Besserung.

Hoffen auf Wechsel

In Berlin hofft derweil Grundschullehrerin Esra Yavuz auf einen Politikwechsel. »Ich wähle für die Menschen, die dort leben und auch für mich - die Türkei ist mein Land«, sagt die 41-jährige Mutter von zwei Kindern. In der Familie wird lebhaft über die Wahl diskutiert, die als größte Herausforderung der politischen Karriere Erdogans gilt. Er muss um seine Wiederwahl fürchten. »Durch das Erdbeben wurden die Menschen wachgerüttelt und haben am eigenen Leib den Schmerz gespürt und gesehen, wie wichtig ein funktionierender Staat ist«, meint Yavuz. Ein Teil ihrer Familie stammt aus der schwer zerstörten Stadt Antakya, in der viele über schleppende Hilfe geklagt hatten.

Aktuelle Umfragen deuten auf ein knappes Rennen zwischen Erdogan (AKP) und seinem stärksten Herausforderer Kemal Kilicdaroglu von der größten Oppositionspartei CHP. Umso spannender wird Erdogans Abschneiden unter den Deutsch-Türken, die noch mehrere Tage lang vielerorts abstimmen können.

In NRW sieht der türkischstämmige Journalist Hüseyin Topel eine »greifbare Chance« für die Opposition - und warnt vor Wahlmanipulation. Er hält eine Rekordwahlbeteiligung hierzulande für gut möglich. »Die Türken in Deutschland fühlen sich durch diese Art der Teilhabe vollwertig und zugehörig. Sie wollen keine Türken zweiter Klasse sein.« Und der Journalist aus Hilden bei Düsseldorf mahnt: »Es ist höchste Vorsicht geboten. Besonders die Wahlurnen im Ausland müssen durch Unterstützer der Opposition parteiübergreifend akribisch bewacht werden.«

Überwiegend religiös-konservativ

Nimmt man die vergangenen Abstimmungen als Beispiel, darf die AKP zumindest bei Wählern hierzulande auf einen Erfolg hoffen. 2018 kam Erdogan in Deutschland auf 64,8 Prozent - und insgesamt nur auf 52,6 Prozent. »Die religiös-konservativen Milieus sind in Deutschland überproportional vertreten und gut organisiert, was ihre Mobilisierung erleichtert«, sagt Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Das habe unter anderem mit der Arbeitsmigration seit den Sechzigerjahren zu tun, die vor allem aus dem ländlich geprägten anatolischen Kernland erfolgt sei - nicht aus Metropolen und Küstenregionen wie Istanbul, Ankara oder Izmir, wo säkulare und oppositionelle Milieus stark sind.

In den letzten Jahren wanderten jedoch viele Studierende, Fachkräfte und Oppositionelle ein - und das könne die Zusammensetzung der Wählerschaft zu Gunsten der Opposition verändern. »Dennoch dürfte das am hohen Zuspruch für Präsident Erdogan in Deutschland nur unmerklich etwas ändern«, glaubt Yunus Ulusoy. In den Moscheen seien AKP-Wählerschichten überrepräsentiert.

Die Stimme der AKP geben, das kann Esra Yavuz nicht nachvollziehen. »Man sieht das ganze Unglück in der Türkei, lebt aber in einem demokratischen Land. Du hast alles hier, wählst in deinem Land aber eine quasi nicht-demokratische Partei.« Auch ihr Ehemann Cagdas glaubt, dass es diesmal gefährlich werden kann für Erdogan. Aber: Es sei nicht die erste »Schicksalswahl« in der Türkei - und der Ausgang sei für viele Menschen trotz zunächst großer Hoffnungen meist doch eine Enttäuschung gewesen. »Mein Vater hat diese Hoffnung die letzten 50 Jahre gehabt. Ich glaube nicht, dass er noch erleben wird, dass die Türkei sich so entwickelt, wie er es sich immer wünschte.«

Viel Stimmung auf Social Media

Außerhalb der Türkei hat Deutschland die weltweit größte türkische Community vorzuweisen - mit rund drei Millionen Menschen. Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker sind drei Monate vor den Abstimmungen hierzulande nicht erlaubt. Für Privaträume gilt aber etwas anderes. »Ein größeres Augenmerk sollte man auf die kleineren Sozialräume im Umfeld der Moscheegemeinden werfen, da sich die Personen für Wahlpropaganda häufig im Privaten treffen«, rät Hüseyin Topel. Die Ditib in Köln als größter Islamverband könne zwar versuchen, zu Gunsten von Erdogan »propagandistisch« Einfluss zu nehmen, eine allzu große Rolle werde das aber wohl nicht spielen, glaubt Topel. Via Facebook, Instagram, TikTok und Twitter werde viel Stimmung für die AKP gemacht.

Der Vorsitzende des Türkischen Bundes in NRW, Serhat Ulusoy, beobachtet: Angesichts medialer »Überfrachtung« und damit einhergehender Polarisierung sei es eine »Gewissensfrage«, wählen zu gehen und möglichst noch viele Menschen für das eigene Lager zu mobilisieren. Unternehmer Mehmet D. vom Niederrhein hätte wegen der Erdbeben eine Verschiebung der Wahlen besser gefunden. Im türkischen Fernsehen würden immer wieder Fortschritte beim Wiederaufbau gezeigt, den Opfern werde nach anfänglichen Problemen sehr geholfen. »Damit ergattert sich Erdogan natürlich Pluspunkte.«

© dpa-infocom, dpa:230427-99-466485/5