Russland hat das Abkommen zum Export von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer gestoppt. Sobald alle Forderungen für die Ausfuhr russischen Getreides erfüllt seien, kehre Moskau wieder zur Erfüllung der Vereinbarung zurück, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge. Das Abkommen mit Russland und der Ukraine hatte nach mehreren Verlängerungen offiziell bis zum späten Montagabend (23.00 Uhr MESZ) gegolten.
Peskow dementierte, dass die aktuelle Attacke auf die Krim-Brücke Auswirkungen auf die Zukunft des Getreideabkommens habe. »Das sind zwei nicht miteinander verbundene Ereignisse.« Noch vor dem Anschlag habe Präsident Wladimir Putin Russlands Position deutlich gemacht, sagte er am Montag. Der Kremlchef hatte vergangene Woche erklärt, dass die Grundlagen für eine Verlängerung der Vereinbarung fehlten.
Vorwürfe aus Moskau
Das russische Außenministerium erhob in diesem Zusammenhang schwere Anschuldigungen gegen die Ukraine, den Westen und die Vereinten Nationen. »Entgegen den Erklärungen zu den humanitären Zielen wurde die Ausfuhr ukrainischer Lebensmittel praktisch sofort auf rein kommerzielle Basis gestellt und richtete sich bis zuletzt auf die Erfüllung selbstsüchtiger Interessen Kiews und des Westens«, hieß es in der Presseerklärung des Ministeriums.
Zudem sei der für die Getreideexporte eingerichtete Korridor auf See mehrfach für den Beschuss russischer ziviler und militärischer Ziele missbraucht worden. Die UN wiederum hätten alle Verstöße gegen das Abkommen von Kiewer Seite schweigend ignoriert, so die Vorwürfe aus Moskau.
Getreideausfuhr für ärmere Länder wichtig
Von den Vereinten Nationen, die gemeinsam mit der Türkei das Abkommen vermittelt hatten, gab es zunächst keinen Kommentar. UN-Generalsekretär António Guterres will am Montagnachmittag vor die Presse treten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte über seinen Sprecher, dass selbst ohne Russland alles für das weitere Funktionieren des Seekorridors zur Getreideausfuhr getan werden müsse.
Damit kommt der Transport von Millionen Tonnen von ukrainischem Getreide, vor allem Mais und Weizen, über den Seeweg zum Erliegen, obwohl die Ausfuhren vor allem für ärmere Länder wichtig sind. Seit Beginn des Abkommens haben etwa 1000 Schiffe aus drei ukrainischen Häfen russischen Angaben zufolge rund 32,8 Millionen Tonnen Getreide ausgeführt.
Kremlchef Putin hatte sich bis zuletzt gegen eine Verlängerung gesperrt. Aus seiner Sicht wurden Versprechen, die Russland im Zuge der Vereinbarung gemacht wurden, nicht erfüllt. Am Donnerstag hatte Putin von der Möglichkeit gesprochen, die Beteiligung Russlands an dem Abkommen so lange auszusetzen, bis die Zusagen erfüllt seien.
Moskau fordert Erleichterungen bei den Sanktionen
Als Gegenleistung forderte Moskau Erleichterungen bei den Sanktionen für seine Dünge- und Lebensmittelexporte, etwa bei Versicherungen, Fracht und auch der Finanzierung. Konkret hatte Russland gefordert, dass seine staatliche Landwirtschaftsbank von den Sanktionen des Westens befreit wird, um Geschäfte abwickeln zu können.
Zudem wollte Russland die Wiederinbetriebnahme einer Ammoniak-Pipeline von seinem Staatsgebiet nach Odessa forcieren, von wo aus das für die Düngemittelproduktion nötige Gas verschifft werden sollte.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan geht trotzdem weiter von einer Verlängerung des Abkommens aus. »Ich denke, dass der russische Präsident Putin trotz der heutigen Mitteilung für eine Fortsetzung dieser humanitären Brücke ist«, sagte Erdogan vor Journalisten.
Er kündigte Gespräche mit Putin an. Eine Verlängerung des Abkommens könne noch vor dem für August geplanten Besuch des russischen Präsidenten in der Türkei möglich sein, sagte Erdogan weiter. Verhandlungen diesbezüglich seien bereits im Gange. Auch Berlin forderte Moskau zum Überdenken seiner Position auf.
Abkommen war mehrfach verlängert worden
Russland hatte nach Beginn seines Angriffskriegs gegen die Ukraine auch die Seehäfen des Nachbarlands blockiert. Da die Ukraine ein wichtiger Agrarexporteur ist, wuchs weltweit die Sorge vor steigenden Lebensmittelpreisen und Hungerkrisen in den ärmsten Ländern.
Im vergangenen Sommer wurde dann unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei das sogenannte Getreideabkommen ausgehandelt. Das ermöglichte der Ukraine eine Ausfuhr über das Schwarze Meer, allerdings in beschränktem Umfang. Vertreter der UN, Russlands, der Ukraine und der Türkei kontrollierten die Schiffsladungen in Istanbul. Das Abkommen wurde mehrfach verlängert, zuletzt Mitte Mai um zwei Monate.
Die Ukraine und Russland sind wichtige Lieferanten von Weizen, Gerste, Sonnenblumenöl und anderen Nahrungsmitteln für Länder in Afrika, im Nahen Osten und in Teilen Asiens. Vor Kriegsbeginn im Februar 2022 lieferten sie fast ein Viertel der Getreideexporte weltweit. Russland war außerdem der weltweit größte Exporteur von Düngemitteln.
2022 konnte die Ukraine trotz des Krieges auch dank des Getreidedeals mehr als 38 Millionen Tonnen Getreide exportieren und dabei Erlöse von umgerechnet über 8 Milliarden Euro erzielen. Die Einnahmen sind wichtig für den Staatshaushalt des Landes, das sich gegen den russischen Angriffskrieg zur Wehr setzt. Knapp 75 Prozent der Exporte gingen über die Häfen am Schwarzen Meer und der Donau ins Ausland. Gegenüber 2021 ging der Seeexport damit um etwa 23 Prozent zurück.
Ukraine will Getreidekorridor betreiben
Die Ukraine kündigt indes trotz fehlender Sicherheitsgarantien eine alleinige Fortsetzung an. »Sogar ohne Russland muss man alles tun, damit wir diesen Schwarzmeerkorridor nutzen können«, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj gemäß einer Mitteilung seines Pressesprechers Serhij Nykyforow bei Facebook.
Selenskyj zufolge seien Schiffseigner bereit, ukrainische Häfen für Getreidelieferungen anzulaufen. Das Abkommen zwischen der Ukraine, der Türkei und der UNO sei auch ohne Moskau weiter in Kraft. Lediglich das davon getrennte zwischen Russland, der Türkei und der UNO sei aufgekündigt worden. Wie die Schiffe und deren Güter in dem Kriegsgebiet versichert werden sollen, sagte Selenskyj nicht.
Bauernverband sieht keine akuten Getreide-Engpässe
Der Bauernverband sieht nach dem vorläufigen Stopp des Abkommens vorerst keine Engpässe auf dem deutschen und europäischen Markt. Anders sieht es nach Einschätzung von Politikern und Experten in anderen Regionen der Welt aus.
Der stellvertretende Generalsekretär des Bauernverbandes, Udo Hemmerling, sagte der Deutschen Presse-Agentur: »Sollte es eine längere Unterbrechung der Schwarzmeerroute für Getreide, Ölsaaten und Düngemittel geben, könnte es erneut zu Versorgungsengpässen und Preissteigerungen im globalen Agrarhandel kommen.« Das ginge vor allem zu Lasten von Importeuren von Brotgetreide in Arabien, Afrika und Asien. »In Mitteleuropa ist hingegen nicht mit Versorgungsengpässen zu rechnen, da hier die eigene Ernte zur Verfügung steht.«
Hemmerling sprach mit Blick auf die aktuelle Lage von einem »politischen Poker Russlands« zu Lasten der Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern. »Tatsächlich hat Russland erhebliche Eigeninteressen, den globalen Marktzugang für seine Getreideexporte nicht zu verlieren.« Für den Bauernverband sei klar, dass der Handel mit Lebensmitteln auch im Krieg nicht blockiert werden dürfe.
Deutsche Reaktionen
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock verlangt nun vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, das Getreideabkommen mit der Ukraine sofort wieder in Kraft zu setzen. Sie forderte Putin »auf, dass er es unterlässt, erneut Hunger als Waffe in diesem brutalen Angriffskrieg einzusetzen. Im Sinne des Friedens in der Ukraine, aber im Sinne des Friedens in der Welt«, sagte die Grünen-Politikerin. Putins Vorgehen mache deutlich, dass der russische Präsident »weltweit auf die Schwächsten keine Rücksicht nimmt«, sagte die Bundesaußenministerin.
Von Anfang an habe man deutlich gemacht, dass die Sanktionen gegen Russland Lebensmittel und wichtige Medikamente ausnähmen, sagte Baerbock. »Dass der russische Präsident das jedes Mal erneut auf den Kopf stellt und Getreide als Waffe einsetzt, macht deutlich, mit welcher Brutalität er diesen Krieg führt.«
Im Streit um den Export von ukrainischem Getreide forderte auch Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir den russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Rückkehr an den Verhandlungstisch auf. »Es muss ein Ende haben, dass Hunger als Waffe eingesetzt wird«, erklärte der Grünen-Politiker. »Putin nimmt die Ärmsten der Armen auf dieser Welt in Geiselhaft für seine grauenhafte Kriegstreiberei.«
Der Grünen-Vorsitzende, Omid Nouripour, sagte der dpa: »Durch den Stopp des Getreideabkommens verschärft der Kreml bewusst die weltweite Nahrungsmittelkrise.« Damit trage Russland eine direkte Verantwortung für Millionen Hungernde. »Es ist richtig, dass sich Deutschland weiterhin um eine Verlängerung der Vereinbarung bemüht«, fügte er hinzu.
In Berlin appellierte die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann an den Kreml, »eine weitere Verlängerung des Getreideabkommens möglich zu machen und diese Auseinandersetzung nicht auf dem Rücken der Ärmsten dieses Planeten auszutragen«. Darüber hinaus warb sie dafür, derartige Vereinbarungen künftig nicht mehr auf einen kurzen Zeitraum zu beschränken, sondern der Ukraine einen langfristigen Getreideexport zu ermöglichen.
Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze mahnte mehr Unabhängigkeit von Russland an. »Für die Zukunft gilt: Wo Russland Weizen als Waffe einsetzen kann, wird es das tun. Die Lehre aus dieser Ungewissheit ist, dass man sich unabhängiger machen muss von Putins Willkür«, sagte die SPD-Politikerin.
Jürgen Hardt (CDU), der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, verurteilte den Stopp des Abkommens durch Moskau als »erneuten Beweis des kriminellen und verbrecherischen Charakters Putins«. Die Blockade des Getreideexports habe keinerlei Einfluss auf den unmittelbaren Kriegsverlauf. »Es geht Putin nur darum, Elend und Vernichtung zu verbreiten.«
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