GENF. So viele Menschen wie noch nie sind Vertriebene in ihren eigenen Ländern. 45,7 Millionen Menschen lebten Ende vergangenen Jahres nach der Flucht vor Konflikten und Gewalt fernab ihrer Heimat, wie aus dem Jahresbericht der in Genf ansässigen Beobachtungsstelle für intern Vertriebene (IDMC) hervorgeht.
Im Jahr davor waren es 41,3 Millionen Menschen. Das Schicksal der Menschen, die zwar aus ihren Wohnorten vertrieben aber nicht über Grenzen geflüchtet seien, werde international zu wenig beachtet, meinte Jan Egeland, Chef der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council, zu der die Beobachtungsstelle gehört: »Wir versagen alle dabei, die gefährdetsten Menschen der Welt zu schützen«, sagte er. »Politiker, Generäle und Diplomaten müssen die Stillstände überwinden und nach Waffenruhen und Friedensgesprächen streben, nicht nach Waffen und Granaten.«
Unter den Ende 2019 Vertriebenen waren nach Schätzungen 18,3 Millionen Kinder unter 14 Jahren. Drei Viertel der Menschen lebten in zehn Ländern: Die meisten in Syrien, Kolumbien, Kongo, Jemen und Afghanistan. Viele Menschen konnten zwar auch wieder in ihre Heimatorte zurück, aber 33,4 Millionen Menschen wurden im vergangenen Jahr neu vertrieben, so viele wie seit 2012 nicht mehr.
Erstmals zählte die Beobachtungsstelle auch diejenigen, die vor Naturkatastrophen geflohen und bis Ende des Jahres noch nicht zurückgekehrt waren: Betroffen waren 5,1 Millionen Menschen. Darunter waren viele durch Dürre in Afghanistan und Monsunregen in Indien Vertriebene.
Die deutsche Direktorin für Strategie und Forschung, Bina Desai, sieht gerade in der Corona-Krise eine Chance, die Lage in den betroffenen Ländern zu verbessern. »Zwar müssen ausländische humanitäre Helfer abziehen, aber die lokalen Kräfte sind ja vor Ort«, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. »Jetzt ist der Moment, deren Kapazitäten noch mehr zu stärken als zuvor.«
Die Zivilgesellschaft müsse gestärkt werden, um die Menschen widerstandsfähiger gegen Gewalt und Konflikte zu machen. Dabei müsse auch manchmal in Kauf genommen werden, mit Akteuren zusammenzuarbeiten, die nicht demokratisch legitimiert sind, sagte sie. »Meist ergibt sich eine Chance durch eine politische Gelegenheit, etwa einen Regierungswechsel, wie in Äthiopien«, sagte sie. Auch, wenn die Zahlen es noch nicht belegten, gebe es dort und in Ländern wie Somalia, Uganda oder Afghanistan vielversprechende Ansätze, um die Zahl von intern Vertriebenen zu reduzieren.
Afghanistan sei etwa dabei, intern Vertriebenen Land zu geben. In Somalia setze die Regierung nicht mehr alles daran, Vertriebene an ihren einstigen Wohnort zurückzubringen, wo sie womöglich ihrerseits Menschen, die in ihre Wohnungen gezogen sind, vertreiben. Manchmal wollten die Vertriebenen selbst lieber in ihrer neuen Heimat integriert werden, schreibt die Beobachtungsstelle. Der Teufelskreis von Krise, humanitärer Nothilfe und neuer Krise müsse durchbrochen werden, sagte Desai. Wichtiger als der parallele Aufbau von Bildungs- und Gesundheitsstrukturen für Vertriebene sei es, die vorhandenen Schulen, Krankenhäuser und die lokale Wirtschaft zu stärken. (dpa)