Im Osten der Ukraine zeichnet sich nach Erkenntnissen westlicher und ukrainischer Militärs eine Großoffensive mit Zehntausenden Soldaten und dem massiven Einsatz von Panzern, Artillerie und Luftwaffe ab - nur über den Zeitpunkt gibt es verschiedene Angaben.
In der fast zerstörten Stadt Mariupol berichtete das ultranationalistische Asow-Regiment von einem Giftgasangriff der Russen. Eine Bestätigung gab es nicht, die USA und Großbritannien reagierten aber besorgt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besuchte Polen, das bisher etwa 2,7 Millionen ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat.
Dauerregen könnte Großangriff im Osten verzögern
Russland habe seine Truppen in der Ostukraine zuletzt von 30.000 auf 40.000 Mann aufgestockt, hieß es vom US-Verteidigungsministerium. Die Truppen wollen nach Angaben aus Kiew bis an die Verwaltungsgrenzen des Gebiets Donezk vordringen. Moskau werde versuchen, Mariupol sowie die Kleinstadt Popasna im Gebiet Luhansk einzunehmen, teilte der ukrainische Generalstab mit.
Das Kommando der ukrainischen Armee im Osten erklärte, man habe im Gebiet Donezk an sechs Stellen Angriffe abgewehrt. Die Ukraine hat dort besonders starke Truppen, die seit 2014 die Front gegen die von Moskau gelenkten und ausgerüsteten Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk halten.
Den westlichen Einschätzungen nach könnte ein russischer Angriff von Norden aus Richtung Charkiw und Isjum erfolgen. Satellitenbilder zeigten vor Isjum einen kilometerlangen Konvoi mit Fahrzeugen zur Unterstützung von Infanterie, Kampfhubschrauber und Kommandostellen, sagte ein Pentagon-Vertreter. Ein zweiter Zangenangriff wird von Süden erwartet. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba fühlte sich bei der kommenden Schlacht bereits an die Panzerschlachten in Südrussland im Zweiten Weltkrieg erinnert.
Die britischen Geheimdienste erwarten in den kommenden zwei bis drei Wochen verstärkte Gefechte im Osten der Ukraine. Serhij Hajdaj, Leiter der regionalen Militärverwaltung in Luhansk, sagte, Dauerregen könnte den russischen Vormarsch verzögern. »In den letzten zwei Tagen haben Hunderte Einheiten mit schwerem Gerät in der Nähe der Fronlinie zusammengezogen. Das könnte nahelegen, dass die Offensive heute oder morgen beginnen sollte, aber heute regnet es.« Es werde laut Wettervorhersage mehrere Tage regnen und dann müsste die russische Armee die Straßen nutzen und sei somit ein leichteres Ziel für die Ukrainer. »Ich hoffe, der Regen verlangsamt die Offensive.«
Bei dem Vormarsch im waldigen Norden der Ukraine nach dem 24. Februar waren die russischen Truppen schnell steckengeblieben, die Ukrainer konnten aus dem Hinterhalt viele Konvois bewegungsunfähig schießen. Im Osten der Ukraine könnten die russischen Truppen kompakter stehen, ihre Nachschublinien seien kürzer, sagten US-Militärexperten. In der offenen Steppenlandschaft ohne Deckung seien die gepanzerten russischen Verbände im Vorteil. Andere Experten sagten voraus, der Nachschub bleibe auch im Osten ein Problem für die russische Armee.
Der deutsche Militärexperte Carlo Masala erwartet nach Ostern einen russischen Großangriff im Osten der Ukraine. Die Verstärkung und Umgruppierung der russischen Truppen werde bald abgeschlossen sein, sagte der Politikprofessor der Bundeswehruniversität München im »stern«-Podcast »Ukraine - die Lage« (Dienstag). Der Beginn des Angriffs hänge von vielen Faktoren ab, bis hin zum Wetter.
Einsatz von Giftgas in Mariupol?
Prorussische Separatisten wiesen den Vorwurf ukrainischer Kämpfer zurück, sie hätten in Mariupol Giftgas eingesetzt. Eduard Bassurin, ein Sprecher der Donezker Separatisten, sagte der russischen Agentur Interfax: »Die Streitkräfte der Donezker Volksrepublik haben in Mariupol keine chemischen Waffen eingesetzt.« In der Nacht hatte das ukrainische Asow-Regiment von einem solchen Angriff berichtet. Eine offizielle Bestätigung gab es auch von ukrainischer Seite nicht.
»Nach vorläufigen Angaben gibt es die Annahme, dass es wohl Phosphorkampfmittel waren«, sagte Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar im ukrainischen Fernsehen. Endgültige Schlussfolgerungen könne es erst später geben. Das Risiko eines russischen Chemiewaffeneinsatzes sei jedoch groß, betonte sie. Bassurin hatte nämlich zuvor einen möglicherweise bevorstehenden Angriff mit Chemiewaffen angedeutet.
Die westlichen Staaten haben Moskau vor ernsthaften Konsequenzen gewarnt, falls es in dem Krieg Chemiewaffen oder andere Massenvernichtungswaffen einsetzen sollte. Nach den Berichten aus Mariupol schrieb die britische Außenministerin Liz Truss auf Twitter, jeder Einsatz solcher Waffen wäre eine Eskalation, für die man den russischen Präsidenten Putin und seine Führung zur Verantwortung ziehen werde.
Ukrainischen Soldaten in Mariupol gehen Lebenmittel aus
In Mariupol haben ukrainische Soldaten Medien zufolge über zur Neige gehende Lebensmittel- und Munitionsvorräte berichtet. Seit Beginn der Belagerung seien keine Lieferungen mehr zu ihnen durchgekommen, sagt ein Soldat in einem auf Facebook veröffentlichten Video. Der Mann, der sich und seine Kameraden als Mitglieder der 36. Marineinfanteriebrigade aus Mariupol vorstellt, trägt einen Bart und hat tiefe Augenringe.
Wo der Clip aufgenommen wurde, war zunächst nicht klar. Viele der verbliebenen ukrainischen Kämpfer haben sich offensichtlich im Stahlwerk »Asowstal« verschanzt.
Kiew setzt Verhandlungen mit Moskau fort
Parallel zum Kriegsgeschehen werden die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau fortgesetzt. »Die Gespräche finden äußerst schwer statt. Online in Arbeitsgruppen, doch finden sie statt«, sagte Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Dienstag der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine.
Die Kiewer Seite arbeite dabei weiter transparent und im »proukrainischen« Rahmen. Moskau versuche allerdings, durch öffentliche Äußerungen Druck auf den Verhandlungsprozess auszuüben, sagte Podoljak.
Zuvor hatte der russische Präsident Wladimir Putin erklärt, dass Kiew nach dem Fund Hunderter Leichen in Butscha von den erreichten Vereinbarungen bei den Verhandlungen mit Moskau Abstand genommen habe.
Ukraine-Krieg: Bereits 403 Leichen in Butscha gefunden
Dort ist die Zahl der nach dem Abzug russischer Truppen gefundenen Leichen weiter gestiegen. »Wir haben 403 Tote, die bestialisch gefoltert, ermordet wurden«, sagte Butschas Bürgermeister Anatolij Fedorok nach örtlichen Medienberichten am Dienstag. Nach seinen Angaben begann an dem Tag die Exhumierung von Leichen eines zweiten Massengrabes mit 56 Toten. Mindestens 16 Menschen würden noch vermisst. Das Oberhaupt der Kleinstadt mit ehemals rund 36.000 Einwohnern erwartet demnach noch weitere Leichenfunde.
Der Generalstaatsanwaltschaft zufolge haben französische Experten von Gendarmerie und des medizinischen Dienstes der französischen Armee ihre Arbeit aufgenommen. »Die gesammelten Beweise werden in den nationalen Ermittlungen genutzt und ebenfalls an den Internationalen Strafgerichtshof übergeben«, sagte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa. Mit einem mobilen Labor zur DNA-Analyse sollen die Experten 15 Tage in dem Ort bleiben.
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