Er ist für eine Verschärfung von Einwanderungs- und Asylregeln - dabei ist er selbst Nachfahre von Migranten. Nach der Ernennung von Rishi Sunak zum neuen britischen Premierminister haben viele aus seiner indischen Herkunft eine besondere Sensibilität für Minderheiten abgeleitet. Doch Fehlanzeige, meinen Beobachter.
Sunak und seine Regierung vertreten vielmehr eine rechtskonservative Politik. Bestes Beispiel: Innenministerin Suella Braverman, ebenfalls mit indischen Wurzeln. Die Vertreterin des rechten Parteiflügels erzählte vor wenigen Wochen lächelnd, es sei ihr »Traum«, dass London vor Weihnachten Asylsuchende per Flugzeug nach Ruanda abschiebe.
Mit der Wahl des Hindus Sunak schaffte es erstmals eine »Person of Colour« ins höchste politische Amt Großbritanniens. Mit dem Begriff werden Menschen bezeichnet, die zum Beispiel aufgrund ihrer Hautfarbe Rassismus ausgesetzt sind. Über Parteigrenzen hinweg wurde die Personalie als Beispiel für die positive Entwicklung der britischen Gesellschaft gewürdigt. US-Präsident Joe Biden sprach von einem Meilenstein. Viele Mitglieder der großen indischen Gemeinschaft im Königreich sind stolz, dass einer von ihnen den Sprung ins höchste politische Amt geschafft hat.
Ethnische Minderheiten als Feigenblatt?
Um die Dimension deutlich zu machen: Als Sunak - Mutter Apothekerin, Vater Arzt und beide in Ostafrika geboren - 1980 in Southampton zur Welt kam, gab es keine einzige »Person of Colour« im britischen Parlament - obwohl viele Nachfahren indischer, pakistanischer oder karibischer Migranten im Land lebten. Vor allem Sunaks Konservative Partei klopft sich kräftig auf die Schultern, dass sie als erste einen Nachfahren von Migranten in die Downing Street schickt. Gerne verweisen Tories darauf, bei der wichtigsten Oppositionspartei Labour gebe es kaum einen nicht-weißen Spitzenpolitiker.
Doch Kritiker bezeichnen das als irreführend. »Mitglieder ethnischer Minderheiten in prominente Positionen zu erheben, liefert das Feigenblatt der Vielfalt, um die rassistische Politik der Partei zu verbergen«, schreibt Kehinde Andrews, Professor für Black Studies an der Birmingham City University, in einem Gastbeitrag für den US-Sender CNN. Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra urteilt in der Zeitung »Guardian« über Sunaks Tories: »Seine übereilte Beförderung in die Downing Street 10 ermutigt jetzt unverschämte Rassisten, sich als Vertreter von ethnischer Vielfalt zu gerieren.«
Die Konservativen stehen seit längerem in der Kritik, mit drakonischen Gesetzen die Demokratie auf der Insel auszuhöhlen. So wollen sie nicht nur Asylsuchende nach Ruanda abschieben, unabhängig von deren Fluchtgeschichte. Sie haben auch die Strafen für Menschen erheblich verschärft, die Statuen umstrittener Persönlichkeiten umstürzen, die in Augen vieler für Verbrechen des Empire während seiner Kolonialzeit verantwortlich sind. Proteste können verboten werden, wenn zu befürchten ist, dass zu laute Musik Anwohner ärgert.
»Die Tatsache, dass seine Haut braun ist und seine Eltern Migranten sind, bedeutet nicht, dass er automatisch irgendeine Affinität zu den Millionen schwarzen und braunen Bürgern hat, die Opfer seiner Partei und ihrer Politik sind«, urteilt Professor Andrews. Sunaks Aufstieg beweise nur, dass ethnischer Hintergrund nicht wichtig sei, wenn man die Tory-Linie stütze. Oft ist auch zu hören, der mit einer reichen indischen Unternehmertochter verheiratete Ex-Investmentbanker kenne wegen seiner Erziehung auf einer Privatschule die Probleme der »normalen« Einwanderernachfahren gar nicht.
Ein Folgeproblem der Kolonialisierung?
Sunak ist beileibe nicht der einzige prominente Tory-Politiker mit Migrationshintergrund. Als die Partei im Sommer die Nachfolge des skandalumwitterten Premiers Boris Johnson ermittelte, war mehr als die Hälfte der Bewerber eine »Person of Colour«. Die Haltung in der Migrationsfrage aber war dieselbe, auch bei Kemi Badenoch mit Vorfahren aus Nigeria, mittlerweile Ministerin für Frauen und Gleichheit, oder Nadhim Zahawi, der einst als Flüchtling aus dem Irak kam. Auch Sunak hat sich für die Ruanda-Flüge ausgesprochen, für die Priti Patel - Vorgängerin von Innenministerin Braverman und ebenfalls Kind von Migranten - verantwortlich zeichnete.
Warum aber verwehren ausgerechnet diejenigen, die dank offener Arme in Großbritannien Karriere machen konnten, nun Menschen mit ähnlichen Schicksalen dieselben Möglichkeiten? Für Schriftsteller Mishra spielt dabei die Kolonialgeschichte eine wichtige Rolle - und hier vor allem die Dekolonisierung in Afrika in den 1960er Jahren. Damals zogen viele Inder, einst von der britischen Kolonialmacht als billige Arbeitskräfte nach Afrika geschickt, nach London weiter. Sie sprachen gut Englisch, waren fleißig und oft gebildet. Sich selbst hätten sie als Sieger an der Seite der »weißen herrschenden Klasse« gesehen, die Afrikaner aber als Verlierer, so Mishra. Nun, so der Umkehrschluss, verteidigen sie ihre Pfründe.
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