Wild zappelnd flattern die Banner der Labour-Partei im Wind am Liverpooler Hafen. Zum Parteitag der britischen Sozialdemokraten Ende September ist es bereits herbstlich in der Arbeiterhochburg an der Irischen See.
Doch stürmisch ist es in politischer Hinsicht für Labour und deren Parteichef Keir Starmer keineswegs. Die Partei, die unter Tony Blair vor 25 Jahren einen historischen Wahlsieg errang und eine neue Ära sozialdemokratischer Politik in Europa einläutete, hat nach Jahren interner Grabenkämpfe wieder zu sich selbst gefunden und präsentiert sich harmonisch. Bei seiner Parteitagsrede am Dienstag lässt sich Starmer bereits wie ein Wahlsieger feiern. Er wird als »Parteichef und nächster Premierminister« angekündigt und mit riesigem Applaus empfangen.
Ganz anders sehen die Dinge für die konservative britische Regierung aus. Nach der Ankündigung massiver Steuersenkungen, die vor allem den Reichsten in der Gesellschaft zugutekommen sollen und die Staatsschulden nach oben treiben, ist das Pfund auf ein Rekordtief im Vergleich zum US-Dollar gestürzt. Die Bank of England schließt weitere Zinsanhebungen nicht aus, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Banken ziehen Kreditangebote mit Zinsbindung zurück. »Die Regierung hat die Kontrolle über die britische Wirtschaft verloren«, ruft Starmer seinem Publikum zu.
Könnte Liz Truss von eigener Partei gestürzt werden?
Im Londoner Regierungsviertel Westminster gehen bereits Gerüchte um, die neue britische Premierministerin Liz Truss, die den skandalträchtigen Boris Johnsons erst vor einigen Wochen im Amt abgelöst hatte, könnte ihrerseits bald wieder von der eigenen Partei gestürzt werden. Schon sollen erste Briefe beim zuständigen Parteigremium eingegangen sein, mit denen ihr Fraktionsmitglieder das Vertrauen entzogen haben.
Dass es soweit kommt, glauben bisher nur wenige. Aber Labour hat längst Blut geleckt. Regulär muss bis spätestens Januar 2025 ein neues Parlament gewählt werden. Doch in der britischen Politik werden Legislaturperioden nur selten vollendet, und eine Neuwahl müssen die Roten derzeit nicht fürchten. Starmer legt in seiner Rede bereits ein richtiges Regierungsprogramm vor mit Plänen, in deren Zentrum eine »fairere und grünere« Gesellschaft stehen soll.
Der 60-jährige Jurist und frühere Chefankläger hatte sich am Montag in Liverpool von seiner lockeren Seite präsentiert und mit Parteineuzugang und Ex-Fußballnationalspieler Gary Neville über seine Sonntagskicks gescherzt. Auch in der Parteitagsrede kann er sich eine Anspielung auf seine Liebe zum FC Arsenal nicht verkneifen, mit der er in Liverpool nicht allzu viele Gleichgesinnte findet. Doch das spielt keine Rolle. Die Partei steht hinter ihm, immer wieder erheben sich die Delegierten zum Applaus.
Stephen Reynolds, ein Labour-Gemeinderat aus dem Städtchen Telford bei Birmingham, findet Starmers Auftritt beim Parteitag einfach nur glänzend. »Er wird zunehmend selbstbewusst an der Parteispitze, und ich denke, jetzt stehen alle hinter ihm«, sagt der 64-Jährige im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Labour in Umfragen deutlich vor Tories
Überhaupt ist von der einstigen Zerstrittenheit bei den Sozialdemokraten kaum mehr etwas zu spüren. Die Grabenkämpfe zwischen den Unterstützern (Corbynistas) des Altlinken Ex-Parteichefs Jeremy Corbyn und dem moderaten Flügel der Partei sind überwunden - zugunsten Starmers und der Mitte.
In den Umfragen liegt Labour deutlich vor den regierenden Tories. Selbst eine eigene Mehrheit scheint nicht mehr außer Reichweite, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Savanta ergab. Demnach gaben 45 Prozent der Befragten an, bei der nächsten Wahl für die Sozialdemokraten stimmen zu wollen, nur 33 Prozent sprachen sich für die Tories aus. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der konservativen Zeitung »Times« zufolge ist der Vorsprung sogar noch größer. Demnach würden die Tories nur noch 28 Prozent der Stimmen bekommen.
Doch Politikwissenschaftler Anand Menon vom King's College in London ist skeptisch, ob Labour nach einer Wahl ganz ohne fremde Hilfe auskommen wird. »Es sieht danach aus, dass Labour stärkste Partei werden wird, aber dann mit anderen zusammenarbeiten muss«, so der Professor im dpa-Gespräch.
Eine Zusammenarbeit mit den Separatisten der Schottischen Nationalpartei SNP schließt Starmer kategorisch aus, denn das hätte wohl zum Preis, den Schotten ein zweites Unabhängigkeitsreferendum zu gewähren. »Wir können und wir werden nicht mit ihnen zusammenarbeiten. Kein Deal auf keinen Fall!«, ruft er. Es sind Worte, an denen er sich wird messen lassen müssen.
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