Mario Draghi reicht es: »Die Mehrheit der nationalen Einheit gibt es nicht mehr«. Ein von der Fünf-Sterne-Bewegung im Senat boykottiertes Vertrauensvotum brachte für den 74 Jahre alten Regierungschef das Fass zum Überlaufen. Die Regierungskrise in Italien erreichte am Donnerstag einen neuen Höhepunkt, aber es könnte noch schlimmer kommen. Im politischen Rom herrschten am Freitag Fassungslosigkeit und Frust. »Das was in diesen Stunden passiert ist, tut dem Land weh«, schrieb Ex-Ministerpräsident Matteo Renzi. Das Regierungschaos könnte das Mittelmeerland mit fast 60 Millionen Einwohnern wirtschaftlich und gesellschaftlich schwer belasten.
Die populistische Fünf-Sterne-Bewegung von Draghis Vorgänger Giuseppe Conte wollte ein Hilfspaket, das auch den Bau einer umstrittenen Müllverbrennungsanlage in Rom mit einschloss, im Parlament nicht mittragen. Sie entzogen der Regierung jedoch damit auch das Vertrauen. Staatschef Sergio Mattarella lehnte Draghis Rücktritt ab. Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) muss nun nach einer neuen Mehrheit im Parlament suchen. Kommenden Mittwoch will er dort Bericht erstatten.
Für Italien steht sehr viel auf dem Spiel. Die Regierung müsse im zweiten Halbjahr noch wichtige Reformen mit politischem Konfliktpotenzial umsetzen, um sich EU-Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zu sichern, erklärt Politik-Experte Wolfango Piccoli. Außerdem muss der Haushalt beschlossen werden, was traditionell zu Streit führt. »Ein Ende Draghis jetzt käme für Italien zum schlechtesten Zeitpunkt«, findet Piccoli.
Aktuell wären stabile Verhältnisse besonders wichtig. Brüssel korrigierte die Konjunkturprognose für die drittgrößte Volkswirtschaft der EU jüngst nach unten und rechnet für 2023 nur noch mit 0,9 Prozent Wachstum. Gestiegene Preise belasten die Verbraucher und Energie-Sorgen plagen das von russischen Gaslieferungen abhängige Land. Draghi will deswegen am Montag nach Algerien fliegen. Das nordafrikanische Land ist für Italien ein wichtiger Gas-Lieferant.
Krise ist auch Gefahr für Europa
Italien könnte auch zur Gefahr für Europa werden. Der Risikoaufschlag für zehnjährige italienische Staatsanleihen im Vergleich mit deutschen Papieren stieg weiter an. »Die aktuelle Regierungskrise hat auf die Stabilität Italiens zunächst keine direkte Auswirkung, aber Beobachter aus der Wirtschaft sind alarmiert, weil die Seriosität und Stabilität, die Draghi als Premierminister vermittelt, wegfallen könnte«, erklärt Nino Galetti, der Leiter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom.
Wie geht es nun mit Italien weiter? Die Möglichkeiten reichen von einer Fortsetzung einer Regierung unter Draghis Führung bis zu vorgezogenen Wahlen. Eigentlich würden erst im Frühjahr 2023 wieder Wahlen anstehen. Manche Medien sehen aber keine Chance für eine weitere Draghi-Regierung und halten daher Neuwahlen für wahrscheinlicher. »Vorgezogene Wahlen sind nicht im Sinne der Senatoren oder Abgeordneten, weil viele von ihnen die nötige Zugehörigkeitsdauer im Parlament für die Rentenansprüche noch nicht erreicht haben. Das ist erst ab Oktober der Fall«, erklärt Galetti. Lediglich die im Umfragehoch stehende rechtsextreme Oppositionspartei Fratelli d'Italia befürwortet Neuwahlen.
Rolle der Lega bislang unklar
Deren Parteivorsitzende Giorgia Meloni sieht die Möglichkeit, dass sich Draghi per Vertrauensvotum die Zustimmung einer Parlamentsmehrheit für einen politischen Fahrplan bis Ende des Jahres holen könnte. Bis dahin muss nämlich der Haushalt beschlossen werden. Im Parlament hätte Draghi auch ohne die Fünf Sterne eine Mehrheit. Ohne sie fehlt ihm aber ein Gegengewicht zur rechten Lega. Sozialdemokraten und Italia Viva würden Draghi unterstützen. Unklar ist die Rolle der mit vielen Sitzen vertretenen Lega von Matteo Salvini. Der Ex-Innenminister schloss Neuwahlen bislang nicht aus.
Ungewiss ist auch die Zukunft der Fünf Sterne. Die Partei befindet sich im Umfragetief. Außenminister Luigi Di Maio trat unlängst aus und nahm Dutzende Unterstützer in die neue Partei Insieme per il futuro (Gemeinsam für die Zukunft) mit. »Conte ist in einer misslichen Situation«, sagt Galetti. »Die Fünf Sterne beschlossen bei ihrem erstmaligen Einzug ins Parlament vor knapp zehn Jahren, dass Abgeordnete nur zwei Wahlperioden dort zugehörig sein dürfen.« Weil diese Zeit bei vielen nun vorbei sei, seien sie Di Maio gefolgt, um dieser Regel zu entgehen.
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