Die drei Geschäftsleute sind in ihrer Mittagspause zum Training gekommen, zwei von ihnen tragen blaue Anzüge und elegante Schuhe. »Meine Herren, aus der Kalaschnikow - jeder zehn Schuss«, sagt Krzysztof Przepiorka.
Der Ausbilder auf einem Schießstand am Stadtrand von Warschau klemmt eine neue Zielscheibe in die Halterung. Jerzy Ciszewski legt das schwere Sturmgewehr an, seine Hände zittern ein wenig. Dann drückt der Marketingexperte ab.
Die Treffgenauigkeit ist noch nicht optimal, doch Ciszewski bekümmert das nicht. »Ich komme erst seit zwei Monaten hierher«, erzählt er. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, habe er den Entschluss gefasst, Schießen zu lernen und den Waffenschein zu machen. »Wir wissen nicht, was in Putins Kopf sitzt, wir müssen uns auf alles gefasst machen.«
»Die Polen greifen zu den Waffen«
So wie Ciszewski denken immer mehr Menschen in Polen. Russlands Angriff gegen das Nachbarland Ukraine hat sie aufgeschreckt. Sie fürchten, dass sich der Konflikt auch auf ihr Land ausdehnen könnte - und wollen sich notfalls selbst verteidigen. »Die Polen greifen zu den Waffen« titelte kürzlich das Politmagazin »Polityka« und berichtete über den landesweiten Run auf Schießstände, Schießkurse und Waffengeschäfte.
»Im März und April hatten wir doppelt so viele Anfragen wie sonst«, sagt Andrzej Martyniak, Mitinhaber des Schießstandes »B7« am Stadtrand von Warschau. Ähnliches berichtet Pawel Dyngosz, Vorsitzender von Polens größtem Schießclub Amator. »Direkt nach Ausbruch des Krieges hatten wir an manchen Tagen mehr als 300 Interessenten für eine Mitgliedschaft.« Für ein Anfänger-Schießtraining habe es Wartezeiten bis zu drei Wochen gegeben. Mittlerweile sei der Ansturm etwas zurückgegangen. »Aber unsere Schießstände arbeiten mit erweiterten Öffnungszeiten.«
Polen hat sehr strikte Waffengesetze, die Hürden für den Erwerb einer Schusswaffenerlaubnis sind hoch. Rund 658.000 Waffen sind in dem Land mit knapp 38 Millionen Einwohnern in Privatbesitz. Zum Vergleich: In Deutschland gehörten 2020 Privatpersonen laut Nationalem Waffenregister mehr als 5,4 Millionen Waffen.
Beim Schießen »fühle ich Solidarität mit den Ukrainern«
Auch Andrzej Gajewski hat keinen Waffenschein. Vor dem Ukraine-Krieg sei er ein- oder zweimal im Jahr zum Schießtraining gegangen, erzählt der 50 Jahre alte Finanzexperte. Jetzt komme er jeden Monat zum Schießstand. »Das Beispiel der Ukraine zeigt, dass es sich lohnt, sich selbst verteidigen zu können. Und wenn ich hier schieße, fühle ich eine Solidarität mit den Ukrainern.«
Wäre denn im Kriegsfall die Verteidigung nicht vor allem Sache der polnischen Armee? »Die Polen verlassen sich ungern nur auf den Staat, sie nehmen die Dinge selbst in die Hand«, sagt der Unternehmensberater Piotr Piela, der ebenfalls an dem Schießtraining teilnimmt. Der 52-jährige verweist auf den Umgang mit Flüchtlingen: »In Deutschland kümmert sich der Staat, in Polen sind es hauptsächlich Privatleute, die den Geflüchteten aus der Ukraine helfen.« Auch er hat eine ukrainische Familie bei sich aufgenommen.
Deckung bei Luftangriffen: Ehemaliger Oberst schult Lehrer
»Mehr als 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Europäer ihren Selbsterhaltungstrieb verloren. Uns ging es nur noch ums Haben, jetzt geht es plötzlich ums Sein«, sagt Schießtrainer Przepiorek. Der durchtrainierte 64-Jährige ist ehemaliger Oberstleutnant der polnischen Spezialeinheit Grom. Nicht nur als Schießausbilder, auch als Sicherheitsberater ist er derzeit sehr gefragt. So schult er unter anderem Lehrer, wie sie die Kinder im Fall eines Luftangriffs in Sicherheit bringen können.
Eine allgemeine Wehrpflicht gibt es in Polen schon seit vielen Jahren nicht mehr. In der Politik wird bislang nicht über eine Wiedereinführung diskutiert. Allerdings registrierte Polens Verteidigungsministerium mit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine ein gesteigertes Interesse am Dienst in der Armee und bei den freiwilligen Truppen des Heimatschutzes WOT.
Auch einer seiner 15 Angestellten habe sich gerade dem Heimatschutz WOT angeschlossen und absolviere in seiner Freizeit eine militärische Ausbildung, erzählt Finanzexperte Gajewski. Und das gesamte Team habe schon klar gesagt, wohin der nächste Betriebsausflug gehen soll: »Zum Schießstand - nicht ins Restaurant.«
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