Nahezu einstimmig wurde der ehemalige Sicherheitsminister John Lee zum nächsten Regierungschef für Hongkong gewählt. 1416 von insgesamt 1424 Delegierten des peking-treuen Wahlkomitees stimmten am Sonntag für den 64-Jährigen.
Doch die Zustimmungsrate von über 99 Prozent sollte nicht überraschen: Lee trat schließlich als alleiniger Kandidat für die Nachfolge der scheidenden Regierungschefin Carrie Lam an. Der Hongkonger steht in den kommenden Jahren vor enormen Aufgaben: Während der Pandemie hat die internationale Finanzmetropole aufgrund der rigiden Grenzschließungen und Quarantänebestimmungen stark gelitten. Die Wirtschaftsleistung Hongkongs ist im ersten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um vier Prozent eingebrochen. Gleichzeitig wird die Stadt von zunehmenden sozialen Ungleichheiten geplagt. Zudem ist der aufgeheizte Immobilienmarkt mit seinem extrem teuren Wohnraum ein zentrales Problem für die Bevölkerung.
John Lee gilt jedoch vor allem wegen seiner sicherheitspolitischen Kompetenzen als Wunschkandidat der chinesischen Zentralregierung. Durch seine Ernennung verspricht sich Peking vor allem Stabilität in der von politischen Unruhen geplagten Metropole.
US-Sanktionen gegen Lee
Mit 19 Jahren trat Lee bereits in den Polizeidienst ein. Wenig später machte er im Hongkonger Sicherheitsapparat Karriere. 2017 stieg er zum Sicherheitschef der Sonderverwaltungszone auf. In seiner damaligen Position war er maßgeblich für die Niederschlagung der pro-demokratischen Demonstrationsbewegung aus dem Jahr 2019 zuständig.
Im August 2020 wurde John Lee von der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump sanktioniert. Dem Politiker wurde vorgeworfen, die international zugesicherte Autonomie Hongkongs zu untergraben. Im April diesen Jahres sperrte Youtube den Wahlkampf-Kanal von Lee. Das Unternehmen begründete die Maßnahme ebenfalls mit den bestehenden US-Sanktionen.
Im Sommer 2020 hat die chinesische Regierung ein vage gehaltenes nationales Sicherheitsgesetz für Hongkong installiert und damit die politische Opposition in der ehemals britischen Kolonie de facto unter Strafe gestellt. Seither sitzen die meisten der einst oppositionellen Politiker und Aktivisten im Gefängnis oder haben sich zurückgezogen. Viele der unabhängigen Medien wurden ebenfalls auf Druck der Regierung eingestellt oder von den Behörden verboten.
EU bedauert »Verletzung demokratischer Grundsätze«
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat im Namen der Europäischen Union den Wahlprozess des neuen Regierungschefs in Hongkong kritisiert. »Die Europäische Union bedauert diese Verletzung der demokratischen Grundsätze und des politischen Pluralismus und sieht in dem Auswahlverfahren einen weiteren Schritt zur Abschaffung des Grundsatzes «Ein Land - zwei Systeme»«, teilte Borrell am Sonntag mit.
Borrell teilte mit, die EU fordere die Behörden in China und Hongkong auf, sich an ihre nationalen und internationalen Verpflichtungen zu halten - dazu gehöre auch das Ziel des allgemeinen Wahlrechts bei der Auswahl des Regierungschefs und des Legislativrats. Er kritisierte, dass die Anzahl der Wähler für das Wahlkomitee erheblich reduziert worden sei. Dies habe die demokratischen Elemente in der Regierung Hongkongs weiter geschwächt.
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