Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) setzt bei der militärischen Unterstützung der Ukraine ungeachtet wachsenden Drucks seiner Koalitionspartner auf Artillerie und Flugabwehr. Der Frage nach der von der ukrainischen Regierung geforderten Bereitstellung westlicher Kampfpanzer wich Scholz aus. Es »bleibt bei der Haltung, die die deutsche Regierung seit Anfang an eingenommen hat und die auch für die Zukunft unsere Haltung sein wird, nämlich dass es keine deutschen Alleingänge gibt«, sagte Scholz in Berlin.
Auch Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) warnte davor. SPD-Chefin Saskia Esken schloss die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine nicht aus, pochte aber auf internationale Abstimmung.
Russland hatte unter dem Druck einer ukrainischen Gegenoffensive am Wochenende den Abzug eigener Truppen aus der Region Charkiw bekanntgegeben. Die Truppenbewegung schien teils einer Flucht zu gleichen, bei der Waffen und schweres Material zurückgelassen werden mussten. Der ukrainische Vorstoß gilt als Etappensieg in der Rückeroberung besetzter Gebiete, der über das Land hinaus Hoffnungen auf eine militärische Wende nährt.
FDP und Grüne für Unterstützung
Bundesfinanzminister und FDP-Chef Christian Lindner plädiert für zusätzliche Unterstützung. »Vor der Tapferkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer muss man salutieren. Wir müssen jeden Tag prüfen, ob wir noch mehr tun können, um ihnen in diesem Krieg beizustehen«, schrieb Lindner auf Twitter. »Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen.« Am Vortag hatte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), gefordert, der Ukraine auch die erbetenen deutschen Kampfpanzer Leopard 2 und Schützenpanzer Marder zu geben. Auf der Lieferliste stehen bisher der Flugabwehrpanzer Gepard, die Panzerhaubitze 2000, Mehrfachraketenwerfer und das Flugabwehrsystem Iris-T sowie weitere Waffen.
»Alle in der Regierung wissen indes, dass noch mehr möglich wäre«, sagte Grünen-Chef Omid Nouripour der »Augsburger Allgemeinen« zur Lage. »Da sollte nicht nur im Ringtausch, sondern wo möglich auch direkt aus den Beständen von Bundeswehr und Industrie geliefert werden.« Beim Ringtausch rüstet Deutschland osteuropäische Nato-Partner mit Leopard-Kampfpanzern und Schützenpanzern Marder aus, die dafür ältere Panzer sowjetischer Bauart an die Ukraine abgeben. Nouripour sagte: »Gerade jetzt, bevor der Winter kommt, müssen wir die Ukraine dabei unterstützen, in diesem Jahr noch so viel wie möglich von ihrem eigenen Land zu befreien.«
Der scheidende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk betonte, dass die Geländegewinne vom Wochenende nicht ohne westliche Waffen möglich gewesen wären. Die Bundesregierung müsse ihre Blockadehaltung bei weiteren Lieferungen aufgeben, sagte er dem Fernsehsender Welt. »Es kann nicht mehr sein, dass man immer wieder eine neue Ausrede erfindet, um nicht das zu liefern, was notwendig ist.« Man sehe, dass die Waffenlieferungen Leben retteten.
Robin Wagener (Grüne), Vorsitzender der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe im Bundestag, forderte, mehr zu tun. »In den erfolgreichen Befreiungen der vergangenen Tage sehen wir den militärischen Mehrwert der westlichen Waffenlieferungen: Sie schaffen militärische Geländegewinne ohne massenhafte Zerstörung und Verwüstung. Sie senken die Zahl der Kriegsopfer auf beiden Seiten. Sie verkürzen diesen Krieg«, so Wagener. Zur Frage weiterer Lieferungen aus Beständen der Bundeswehr schrieb er: »Unsere Freiheit wird nicht auf den Gefechtsübungsplätzen der Bundesrepublik, sondern an der Front in der Ukraine verteidigt.«
Vorwürfe von russischer Seite
Verteidigungsministerin Lambrecht sagte, sie habe bei einem Treffen der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe in der vergangenen Woche ihren US-Kollegen Lloyd Austin auf Panzerlieferungen angesprochen. »Ich habe da zumindest diese Wahrnehmung nicht gehabt, dass es da ein Umdenken in den USA gibt dazu«, sagte Lambrecht. In einer Rede sagte sie auch: »Die Ukraine heute existiert nur deswegen, weil sie sich militärisch wehren kann. Wir müssen daraus die Lehre ziehen: Wir selbst brauchen starke, kampfbereite Streitkräfte, damit wir uns und unser Bündnis zur Not verteidigen können.«
Der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, erhob unterdessen Vorwürfe. »Allein die Lieferung tödlicher Waffen an das ukrainische Regime, die nicht nur gegen russische Soldaten, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung im Donbass eingesetzt werden, ist eine «rote Linie», die die deutsche Regierung (...) nicht hätte überschreiten dürfen«, sagte Netschajew in einem am Montag erschienenen Interview der russischen Tageszeitung »Iswestija«. Laut Netschajew ist Deutschland eine der treibenden Kräfte bei der Sanktionspolitik des Westens gegen Russland. Der Botschafter sprach deswegen Berlin eine Vermittlerrolle in dem Konflikt ab.
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