BRÜSSEL. Die EU-Kommission nimmt heute einen neuen Anlauf für die seit Jahren blockierte Reform der Asyl- Migrationspolitik.
Dazu will die Brüsseler Behörde Vorschläge vorlegen, über die die EU-Länder und das Europaparlament anschließend verhandeln. Seit der großen Flüchtlingsbewegung 2015 sind die EU-Staaten bei diesem Thema völlig zerstritten.
Einem Bericht der »Welt« zufolge setzt die EU-Kommission darauf, die EU-Staaten künftig in Ausnahmesituationen zur Aufnahme von Schutzbedürftigen zu verpflichten. Alternativ könnten die Regierungen aber auch andere Hilfe leisten, etwa bei der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, hieß es unter Berufung auf hochrangige EU-Diplomaten. EU-Kreise bestätigten dies.
Die Verteilung Schutzsuchender auf die EU-Staaten ist seit Jahren Kern der Diskussion. Die derzeit gültigen Dublin-Regeln sehen vor, dass meist jener EU-Staat für einen Asylantrag zuständig ist, auf dessen Boden der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat. Dies belastet vor allem Länder an den EU-Außengrenzen - etwa Griechenland, Italien oder Spanien. Sie fordern deshalb mehr Unterstützung und eine Verteilung der Migranten auf die anderen Länder. Auf der anderen Seite lehnen Staaten wie Österreich, Ungarn, Tschechien und Polen eine verpflichtende Aufnahme von Schutzsuchenden kategorisch ab. Jeder Versuch einer umfassenden Reform scheiterte in den vergangenen Jahren.
Folgen der Blockade waren immer wieder Notfälle und Ad-hoc-Lösungen. Vor zwei Wochen brannte etwa das völlig überfüllte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ab. Mehr als 12.000 Menschen wurden obdachlos. Italien und Malta wiederum lassen aus Seenot gerettete Migranten teils wochenlang auf Schiffen ausharren, ehe ihnen die Einfahrt in einen Hafen erlaubt wird.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte sich bei Amtsantritt Ende 2019 vorgenommen, diese Konflikte zu lösen. Die Vorschläge ihrer Behörde verzögerten sich jedoch immer wieder.
Während einer Rede im EU-Parlament rief von der Leyen die EU-Staaten jüngst zum Kompromiss auf. »Wir müssen wieder Vertrauen zueinander finden und gemeinsam vorankommen«, sagte die deutsche Politikerin. Dabei machte sie auch klar, dass jedes EU-Land seinen Beitrag zur gemeinsamen Migrationspolitik leisten müsse. Sie ließ jedoch offen, wie diese Solidarität aussehen solle. Stattdessen sprach sie von einem »menschlichen und menschenwürdigen Ansatz«. Die Rettung von Menschen aus Seenot sei keine Option, sondern eine Pflicht.
Dem »Welt«-Bericht zufolge beschreibt die EU-Kommission in ihrem neuen Vorschlag nun drei Szenarien: Bei einer normalen Entwicklung können die EU-Staaten einander freiwillig helfen. Dies gilt zunächst auch für das zweite Szenario, wenn das Asylsystem unter Druck gerät - aber nur, so lange tatsächlich genügend Beiträge zusammenkommen. Im echten Krisenfall - etwa einer Flüchtlingskrise wie 2015 - soll die Hilfe verpflichtend sein. Am Dublin-Prinzip will die EU-Kommission dem Bericht zufolge weitgehend festhalten.
Die Abgeordneten des EU-Parlaments setzen darauf, dass der Kommissionsvorschlag endlich Bewegung in den festgefahrenen Konflikt bringt. Sie erhoffe sich einen Neustart in den Verhandlungen der EU-Staaten, sagte die SPD-Politikerin Birgit Sippel der dpa. »Mit einem neuen Impuls könnte dort hoffentlich Bewegung in die Gespräche kommen und einige Mitgliedstaaten könnten ihre Blockadehaltung aufgeben.«
Der FDP-Politiker Jan-Christoph Oetjen ist optimistisch: »Es ist gut, dass die Kommission endlich das Migrationsthema aufgreift und wir vertrauen (EU-Innenkommissarin) Ylva Johansson, dass sie einen guten Kompromiss vorlegt.« Die Linken-Abgeordnete Cornelia Ernst warnte hingegen, dass Menschen in Not nicht als »Spielball« europäischer Politik missbraucht werden dürften. »Jeder Schritt in Richtung noch mehr Festung Europa bedeutet noch mehr Gewalt und Leid an den EU-Außengrenzen, noch mehr Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung derjenigen, die auf ein freies und faires Europa setzen. Das ist mit uns nicht zu machen«, sagte Ernst der dpa.
Die EU-Kommission betont immer wieder, dass die EU sich derzeit mit Blick auf die Zahl der Asylbewerber nicht in einer Krise wie 2015 befinde. Damals gab es der EU-Grenzschutzagentur Frontex zufolge mehr als 1,8 Millionen irreguläre Grenzübertritte in die EU und den Schengenraum. 2019 lag der Wert bei rund 139.000. Hinzu kommt, dass 2015 ein Großteil der Menschen schutzberechtigt war. (dpa)