Die Verhandlungen über das milliardenschwere Startchancen-Programm für Schulen sind in Berlin abgeschlossen worden. Die Politik setzt große Hoffnungen darauf. Experten sehen viele positive Punkte, führen aber auch an, was fehlt.
Was ist die Ausgangslage?
Die beiden Bildungsforscher Nele McElvany und Ulrich Ludewig von der TU Dortmund weisen darauf hin, dass die familiäre Herkunft in Deutschland nach wie vor einen großen Einfluss auf Bildungschancen hat. Zudem gebe es zunehmend Schüler, die besonders gefördert werden müssten, etwa in Deutsch. Bildungsstudien zeigen eine Abnahme der Kompetenzen. Eine im Dezember veröffentlichte Pisa-Studie dokumentierte, dass deutsche Schülerinnen und Schüler im Jahr 2022 so schlecht abschnitten wie nie zuvor. Sowohl im Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften handelte es sich um die niedrigsten Werte, die für Deutschland jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden.
Was ist das Startchancen-Programm?
Das Programm wird von Bund und Ländern gemeinsam aufgelegt und finanziert, um bundesweit rund 4000 allgemeinbildende und berufliche Schulen zu fördern, die einen hohen Anteil sozioökonomisch benachteiligter Schüler haben. Das neue Programm soll den starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufbrechen. Es soll dazu beitragen, dass das Bildungssystem in Deutschland besser und leistungsfähiger wird. Zugleich ist es eines der wichtigsten bildungspolitischen Vorhaben der Ampel-Regierung.
Was ist das konkrete Ziel?
Verbessert werden sollen die Kompetenzen der Schüler vor allem in Lesen, Schreiben und Mathematik. »Bis zum Ende der Programmlaufzeit soll die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen, an den Startchancen-Schulen halbiert werden«, heißt es. Bundesweit sollen rund eine Million Schüler profitieren.
Wann soll das Programm starten?
Startpunkt ist das kommende Schuljahr 2024/2025. Es könnte aber sein, dass wegen der Planungs- und Vorbereitungszeit zunächst nur rund 1000 Schulen an den Start gehen und dann zum Schuljahr 2026/27 die Zahl von 4000 Schulen erreicht wird.
Wer bezahlt das Programm?
Der Bund stellt jährlich etwa eine Milliarde Euro bereit - die Länder steuern genauso viel bei. Über einen Zeitraum von zehn Jahren - bis zum Ende des Schuljahres 2033/24 - sind das insgesamt 20 Milliarden Euro. Angesichts knapper öffentlicher Kassen ist das ein Kraftakt. Die Länder können schon bestehende Programme bei der Kofinanzierung anrechnen.
Was beinhaltet das Programm im Detail?
Ein Teil des Geldes soll in Infrastruktur und Ausstattung der Schulen gesteckt werden. Zudem können die Schulen über ein »Chancenbudget« selber finanzielle Schwerpunkte setzen, etwa für eine zusätzliche Lernförderung von ausgewählten Schülern in den Fächern Mathematik und Deutsch. Außerdem soll die Entwicklung von Teams aus Sozialarbeitern, Sozialpädagogen und anderen Fachkräften gefördert werden.
Wie werden die Schulen ausgewählt?
Die Länder benennen die Schulen. Nach den Worten des Bildungsforschers Dirk Zorn von der Bertelsmann Stiftung müssen sie dazu einen »Sozialindex« für die Schulen einführen, um die Schulen mit dem größten Unterstützungsbedarf auswählen zu können. Wie Politiker bei der Vorstellung des Programms erklärten, spielen der Anteil der Menschen unter 18 Jahren mit Migrationshintergrund, die Armutsgefährdung einer Region sowie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts eine besondere Rolle bei der Verteilung des Geldes.
Was bewerten Experten positiv an dem Programm?
Bildungsforscher Zorn spricht von einem »Paradigmenwechsel« im deutschen Bildungswesen. Das Geld werde nicht mehr nach dem Gießkannenprinzip verteilt, sondern nach dem tatsächlichen Bedarf. Positiv zu werten sei auch, dass unter den 4000 geförderten Schulen 2400 Grundschulen sein sollen. Dort seien die Probleme oft besonders groß - dort könne man aber auch die größte Wirkung erzielen. Die beiden Forscher McElvany und Ludewig sehen das ähnlich: Den Schwerpunkt zu legen auf Schulen in herausfordernden Lagen und dabei insbesondere auch auf Grundschulen, sei ein sehr sinnvoller Ansatz.
Was bewerten Experten kritisch an dem Programm?
Experte Zorn sagt: »Aus meiner Sicht ist das Programm zu klein dimensioniert.« Das Geld reiche nicht aus mit Blick auf die Größe der Probleme. Zudem bräuchten die Schulen vor allem auch mehr Stellen für Lehrer. Darauf verweisen auch McElvany und Ludewig: »Am Lehrkräftemangel kann das Programm kurzfristig nichts ändern.«
Was sagen Schülervertreter zu dem Programm?
Die Bundesschülerkonferenz sieht das Programm als möglichen »Gamechanger«, hält das finanzielle Volumen aber ebenfalls für zu gering. Generalsekretär Florian Fabricius kritisiert zudem, dass mit dem Programm ausdrücklich keine Instandsetzungen und Sanierungsmaßnahmen gefördert werden können, die ohnehin notwendig seien - dazu zähle etwa die Reparatur von kaputten Toiletten oder löchrigen Zimmerdecken.
Und was ist mit dem Digitalpakt?
Der Digitalpakt mit anfangs fünf Milliarden Euro des Bundes - er wurde finanziell mehrfach aufgestockt - ist ein Förderprogramm zum technischen Ausbau der Schulen, etwa mit WLAN oder Tablets. Er läuft im Frühjahr aus. Einige Politiker in den Ländern hatten kritisiert, dass noch kein Nachfolgepakt festgezurrt ist. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sagte kürzlich, dass der Bund zum Digitalpakt 2.0 stehe, aber erst die Mittel aus dem ersten Pakt genutzt werden müssten - das sei bisher nicht vollständig der Fall. Am Freitag wurde bekannt, dass die Vereinbarung über einen neuen Pakt Mitte Mai stehen soll.
Experte Zorn sagt klar: »Digitalität gehört heute zur Schule, und dafür braucht es eigentlich mehr als einen Pakt.« Nötig sei eine dauerhafte, tragfähige Finanzierung. »Eine leistungsfähige digitale Ausstattung muss heute so selbstverständlich sein wie früher Tafel und Kreide.« Es fehle eine einheitliche Reformstrategie für das deutsche Bildungssystem. »Dafür bräuchten wir eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung. Davon sind wir derzeit noch weit entfernt.«
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