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»Neue Ära«: Ukraine hat nun Flugabwehrsystem Iris-T

Kiew setzt Hoffnungen in westliche Luftverteidigungssysteme, wie das nun aus Deutschland übergebene Iris-T. Auch die deutsche Verteidigungsministerin sieht die Ukraine damit besser gewappnet.

Iris-T
Ein Flugabwehr-Waffensystem vom Typ IRIS-T SLS, eine Komponente des Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM, auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung ILA. Foto: Wolfgang Kumm
Ein Flugabwehr-Waffensystem vom Typ IRIS-T SLS, eine Komponente des Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM, auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung ILA.
Foto: Wolfgang Kumm

Die Bundesregierung will sich nach der ersten Lieferung des Flugabwehrsystem Iris-T SLM an die Ukraine zügig um weitere Unterstützung bemühen. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) bezeichnete die Waffensysteme am Rande eines Nato-Treffens in Brüssel am Mittwoch als wichtige Unterstützung der Ukraine »im Kampf gegen Raketenbeschuss, gegen diesen Terror, der gegenüber der Bevölkerung ausgeübt wird«.

Lambrecht bezog sich dabei auch auf Äußerungen des ukrainischen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj. »Luftverteidigung ist momentan das Vordringlichste, und deswegen unterstützen wir da auch mit allen Möglichkeiten, die wir haben«, sagte sie.

Drei weitere Iris-T-Systeme sollen im kommenden Jahr bereitgestellt werden. Die Ankunft des ersten Systems bestätigte der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow in der Nacht zum Mittwoch auf Twitter. »Eine neue Ära der Luftverteidigung« habe nun begonnen. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg begrüßte die deutsche Lieferung. Es sei extrem wichtig, dass die Bündnispartner Luftabwehrsysteme an die Ukraine lieferten. Man werde darüber beraten, wie man die Unterstützung ausbauen könne, sagte der Norweger.

Soldaten in Deutschland schon ausgebildet

Deutschland will Kiew zunächst vier der jeweils 140 Millionen Euro teuren Systeme des bodengestützten Typs von Iris-T zur Verfügung stellen, die Finanzierung von drei weiteren ist gesichert. Ein System besteht aus mehreren Komponenten: Radaranlage, Gefechtsstand und drei auf Lastwagen montierten Raketenwerfern. Es wird jeweils von 30 bis 40 Soldaten bedient. Die Entscheidung zum Abschuss eines anfliegenden Objekts wird von einem Feuerleitoffizier ausgeführt. Ukrainische Soldaten wurden in Deutschland schon an dem Waffensystem ausgebildet. Die Industrie übernahm die technische Betreuung, Spezialisten der Luftwaffe das taktische Training.

Iris-T SLM kann auf Ziele bis 20 Kilometer Flughöhe und 40 Kilometer Reichweite feuern. Es wird also eine Art Schutzschirm über einer Fläche gespannt. Eines der Systeme kann eine mittlere Großstadt wie Nürnberg oder Hannover schützen.

»Besonders die bodengebundene Luftverteidigung ist in der Lage, Räume über längere Zeit dauerhaft zu schützen«, schreibt der Hersteller Diehl Defence, der Iris-T maßgeblich entwickelt hat. Das System ist auf »Mehrfachzielbekämpfung« und »360-Grad-Rundumschutz« ausgelegt. Es feuert eine oder mehrere Raketen zur Abwehr von Hubschraubern, Flugzeugen sowie Marschflugkörpern und Raketen. Das Radar ermittelt die Richtung des Angriffs; am Schluss des Anflugs übernimmt der auf Infrarot, also Wärmestrahlung, reagierende Suchkopf der Rakete.

Eine Variante dieser Raketen gehört bereits zur Bewaffnung der Kampfflugzeuge Eurofighter und Tornado. Sie werden als Luft-Luft-Rakete eingesetzt und damit auf dem Abschnitt auf dem Weg zum Ziel, bei dem der Infrarotsuchkopf steuert.

Mobiles System

Einen 100-prozentigen Schutz gegen Angreifer gibt es nicht. So können Täuschkörper eine einzelne Rakete ablenken oder eine Überzahl angreifender Objekte die Sensoren oder das ganze Luftabwehrsystem zahlenmäßig überfordern (»übersättigen«).

Das Luftabwehrsystem ist mobil und kann seinen Standort schnell wechseln, wenn es vom Gegner ausgekundschaftet wurde. Die Anlage ist dann in kurzer Zeit wieder feuerbereit. In der Bundeswehr selbst soll das bodengebundene System erst von 2025 an eingeführt werden. Deutschland arbeitet selbst am Ausbau der Abwehr im eigenen Luftraum und entlang der Nato-Ostflanke und steht vor dem Abschluss eines Rüstungsgeschäfts mit Israel.

Dabei geht es um den Kauf des Systems Arrow 3. Dieses bildet die höchste Stufe von Israels mehrstufiger Raketenabwehr und kann angreifende Waffensysteme bis über 100 Kilometer Höhe außerhalb der Atmosphäre im beginnenden Weltraum zerstören. Damit vergrößert sich auch die am Boden geschützte Fläche. Sprengköpfe werden weit vom Ziel zerstört und unschädlich gemacht. Zuletzt stand eine Zustimmung der USA - die den Motor dieser ansonsten weitgehend israelischen Entwicklung liefern - für das Geschäft aus und sorgte für Verzögerungen. Beobachtet wird, ob die USA womöglich aufgrund eigener industriepolitischer Interessen auf der Bremse stehen und verhindern, dass eine militärische Lücke in Europa geschlossen wird.

Angriffsziel vor allem Infrastruktur

Die schweren Folgen von Raketenangriffen auf Bevölkerungszentren und Industrieanlagen erlebt die Ukraine: Der russische Beschuss hat in den vergangenen Tagen offenkundig besonders auf Energieinfrastruktur abgezielt, es waren etwa in Lwiw im Westen mehrere Umspannwerke komplett zerstört worden. Viele Bewohner waren von der Stromversorgung abgeschnitten.

Resnikow teilte mit, auch Luftverteidigungssysteme des Typs Nasams aus den USA seien unterwegs. »Das ist erst der Anfang. Und wir brauchen mehr. Zweifellos ist Russland ein Terror-Staat«, schrieb der Minister weiter. Es gebe einen »moralischen Imperativ«, den Himmel über der Ukraine zu schützen, um unsere Bevölkerung zu schützen.

Der scheidende Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, dankte der Bundesregierung für die Lieferung von Iris-T SLM. Entscheidungen der Bundesregierung für weitere Lieferungen über die schon vereinbarten weiteren drei Systeme hinaus seien aber jetzt schon nötig, sagte Melnyk der Deutschen Presse-Agentur.

»Denn sie sehen: Putin führt diesen Krieg vor allem gegen Städte, gegen Menschen, gegen Infrastrukturobjekte, gegen Kraftwerke. Und deswegen müssen viel mehr Systeme kommen, auch aus Deutschland. Es müssen Aufträge schon heute erteilt werden, damit wir die Systeme nicht im Jahre 2024 bekommen«, sagte Melnyk. Und: »Das ist mein Appell und das ist meine große Bitte an den Bundeskanzler (Olaf Scholz), weiterhin diesen Weg zu gehen.«

© dpa-infocom, dpa:221012-99-95947/10