Die Not steht der armenischen Ärztin aus Berg-Karabach förmlich ins Gesicht geschrieben: »In diesem Moment haben wir keine medizinischen Ressourcen mehr übrig, die uns helfen können«, sagt sie in einem Video, das in sozialen Netzwerken vielfach geteilt wird.
Es fehle an Antibiotika, Patienten müssten dringend ausgeflogen werden, sagt sie mit gehetzter Stimme. Dann läuft sie zurück ins Krankenzimmer. Das Video soll heute aufgenommen worden sein - einige Stunden, nachdem unweit von Berg-Karabachs Hauptstadt Stepanakert ein Treibstofflager explodiert war.
Die Behörden der international nicht anerkannten Republik berichteten am Dienstagabend von 68 Toten und etwa 290 Verletzten. Fast 170 Verletzte seien in Krankenhäuser nach Armenien gebracht worden. Das Schicksal von etwa 100 Menschen sei noch ungeklärt. Bis dahin war von etwa 20 Toten die Rede gewesen.
Die Ursache der Explosion von gestern Abend ist noch immer unklar. Fest scheint nur zu stehen, dass ihr viele Menschen zum Opfer fielen. Sie wollten mit Autos flüchten vor der aserbaidschanischen Armee, die sie in der vergangenen Woche angegriffen und nach kurzen, aber heftigen Kämpfen besiegt hatte. Nach örtlichen Berichten standen sie zum Zeitpunkt des Unglücks zu Hunderten an der Tankstelle an, um Benzin für die Flucht zu erhalten.
Berg-Karabach liegt zwar auf aserbaidschanischem Staatsgebiet, wird aber mehrheitlich von ethnischen Armeniern bewohnt und ist zwischen den beiden verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken schon seit Jahrzehnten umkämpft. Am vergangenen Dienstag startete das autoritär geführte Aserbaidschan eine Militäroperation zur Eroberung Berg-Karabachs. Nur einen Tag später ergaben sich die unterlegenen Karabach-Armenier.
Furcht vor Vertreibung
Während der kurzen Kämpfe kamen armenischen Angaben zufolge mehr als 200 Menschen ums Leben, mehr als 400 weitere wurden demnach verletzt. Die Zehntausenden armenischen Zivilisten in der Region fürchten nun, vertrieben oder von den neuen aserbaidschanischen Machthabern unterdrückt zu werden.
Zusätzlich angespannt ist die humanitäre Lage, weil Aserbaidschan schon Monate vor den Angriffen mit einer Blockade der einzigen armenischen Zufahrtsstraße nach Berg-Karabach begann. Deshalb sind unter anderem Lebensmittel knapp und - was aktuell besonders fatal ist - Medikamente.
Seit Sonntag dürfen flüchtende Zivilisten über diesen so genannten Latschin-Korridor ausreisen, und sie haben sich zu Tausenden auf den Weg gemacht. Auf Fotos war zu sehen, wie sich auf der kurvenreichen Straße riesige Staus bildeten; es ging nur schleppend voran. Autos wurden mit dem wichtigsten Hab und Gut vollgepackt, teils der Hausrat auf das Fahrzeugdach geschnallt. Auf armenischem Staatsgebiet angekommen wurden die Menschen von Hilfsorganisationen in Empfang genommen. Viele wirkten völlig erschöpft, manche weinten.
Rotes Kreuz: Krankenhäuser überlastet
Die Regierung in Armeniens Hauptstadt Eriwan sprach zuletzt von rund 28.000 Geflüchteten. Unterdessen hielten in Eriwan auch die Proteste gegen die politische Führung an, die sich nach Ansicht der Demonstranten zu wenig für die Karabach-Armenier eingesetzt hat.
Mit Blick auf die Opfer der Tankstellen-Explosion mahnte unterdessen auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) schnelle Hilfe an. »Die Krankenhäuser in der Region waren bereits vor dem Zustrom von Patienten durch die Explosion überlastet«, heißt es in einer Mitteilung.
»Das ist eine absolute Tragödie für Hunderte von Menschen, die jetzt unter schrecklichen, schmerzhaften Verbrennungen leiden«, sagte Ariane Bauer, IKRK-Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien. Teams des Roten Kreuzes lieferten medizinische Hilfsgüter und halfen bei der Evakuierung von Verletzten per Krankenwagen, wie es hieß.
Offiziell bot auch Aserbaidschan seine Hilfe an. Baku sei zur Aufnahme von Opfern der Explosion aus Karabach bereit, teilte der aserbaidschanische Präsidentenberater Hikmet Hajiyev mit. Ob die Armenier nach den Schikanen der vergangenen Monate nun aber ihre verletzten Landsleute ausgerechnet in die Obhut des verfeindeten Nachbarlandes geben wollen, ist äußerst fraglich.
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