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Aktuell Synagoge

Nach Anschlag: Hatte der Rechtsextremist Mittäter?

Stück für Stück setzen die Ermittler das Bild vom Angriff des Rechtsextremisten auf die Synagoge in Halle zusammen. Was trieb den 27-Jährigen an? Der Zentralrat der Juden sieht eine »neue Qualität« des Rechtsextremismus, die CSU sieht die AfD in der Mitverantwortung.

Schüsse in Halle
Das Videostandbild zeigt die Schüsse von Halle. Foto: ATV-Studio/AP/dpa
Das Videostandbild zeigt die Schüsse von Halle. Foto: ATV-Studio/AP/dpa

Halle (dpa) - Nach dem Angriff eines Rechtsextremisten auf die Synagoge und der Tötung von zwei Menschen in Halle/Saale arbeiten die Ermittler an einem möglichst kompletten Bild der Tathintergründe.

Die Wohnung des mutmaßlichen Täters, eines 27-Jährigen Deutschen, sei durchsucht und Beweismittel sichergestellt worden, sagte ein Sprecher der Bundesanwaltschaft. Es werde geprüft, ob es Mittäter gegeben habe. Das im Internet aufgetauchte Bekennervideo und ein »Manifest« des mutmaßlichen Täters sind nach dpa-Informationen authentisch. Die Bundesanwaltschaft will noch heute beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle stellen.

Im Laufe des Tages werden in Halle Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundesinnenmister Horst Seehofer (CSU) erwartet. Auf einer Pressekonferenz am Nachmittag soll der Stand der Ermittlungen vorgestellt werden.

Nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft hat die Tat ein rechtsextremistisches und antisemitisches Motiv. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sprach von einer »neuen Qualität des Rechtsextremismus in Deutschland«. Er beobachte eine politische Entwicklung, die Rechtsextremismus fördere, sagte Schuster dem Deutschlandfunk.

Zuvor hatte Schuster schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhoben: »Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös.«

Die CSU gibt der AfD eine Mitverantwortung an der Tat. »Das eine sind diese schrecklichen Gewalttäter, vor denen wir uns schützen müssen, das andere sind auch die geistigen Brandstifter, da sind in letzter Zeit auch einige Vertreter der AfD in unverschämter Weise aufgefallen«, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann im Interview mit dem Sender Bayern 2 des Bayerischen Rundfunks.

Namentlich nannte Herrmann in diesem Zusammenhang den Thüringer AfD-Spitzenpolitiker, Björn Höcke: »Höcke ist einer der geistigen Brandstifter, wenn es darum geht, wieder mehr Antisemitismus in unserem Land zu verbreiten. Darüber müssen wir jetzt die politische Auseinandersetzung konsequent führen.«

Die AfD wehrte sich gegen die Vorwürfe. »Wer dieses entsetzliche Verbrechen missbraucht, um die politische Konkurrenz mit haltlosen Diffamierungen zu verleumden, der spaltet die Gesellschaft und schwächt das demokratische Fundament, auf dem wir stehen«, erklärte die Fraktionschefin Alice Weidel am Donnerstag.

Mutmaßliches Täter-Auto
Das mutmaßliche Auto des Täters, wird von einem Abschleppwagen bei Wiedersdorf/Landsberg abgeschleppt. Foto: dpa
Das mutmaßliche Auto des Täters, wird von einem Abschleppwagen bei Wiedersdorf/Landsberg abgeschleppt. Foto: dpa

Nach Einschätzung der Bundesanwaltschaft ist das Bekennervideo sei eindeutig antisemitisch und rechtsextremistisch. »Er hat geplant, Menschen zu töten«, so ein Ermittler. Der mutmaßliche Täter war den Behörden zuvor offensichtlich nicht aufgefallen. Die Bundesanwaltschaft sieht eine staatsgefährdende Tat. Ermittelt wird unter anderem wegen Mordes und Mordversuchs.

Einzelheiten über den vermutlich verletzten Stephan B. aus Sachsen-Anhalt wurden zunächst nicht offiziell bekannt. Derzeit wird das Umfeld des Mannes ermittelt.

Der mutmaßliche Täter war am Mittwoch festgenommen worden. Er hatte nach Angaben aus Sicherheitskreisen gegen Mittag versucht, die Synagoge mit Waffengewalt zu stürmen. Mehr als 50 Menschen hielten sich zu dem Zeitpunkt in dem Gotteshaus auf und feierten das wichtigste jüdische Fest, Jom Kippur.

Nachdem es ihm nicht gelang, in das Gotteshaus einzudringen, soll er vor der Synagoge und danach in einem nahen Döner-Imbiss zwei Menschen erschossen haben. Außerdem soll er mindestens zwei weitere Menschen verletzt haben. B. soll die Tat gefilmt und per Helmkamera live ins Internet übertragen haben, bevor er vom Tatort floh.

Solidaritätskundgebung an Neuer Synagoge in Berlin
Der Präsident des Zentralrats der Juden erhob schwere Vorwürfe gegen die Polizei. »Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös«, sagt er. Foto: Christoph Soeder/dpa
Der Präsident des Zentralrats der Juden erhob schwere Vorwürfe gegen die Polizei. »Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös«, sagt er. Foto: Christoph Soeder/dpa

Nach noch unbestätigten Medienberichten war der Täter nach den Schüssen in Halle mit dem Auto ins etwa 15 Kilometer entfernte Landsberg geflüchtet, hatte dort in einer Autowerkstatt mehrere Menschen bedroht und sich ein neues Fluchtauto besorgt. Ein Mitarbeiter in der Garage wollte sich nicht zu den Vorfällen äußern, weil er Zeuge sei. Das mutmaßliche Täter-Auto wurde am Donnerstagmorgen nach Informationen eines dpa-Reporters abgeschleppt.

Mit dem neuen Auto baute der Täter den unbestätigten Berichten zufolge einen Unfall und wurde schließlich an der B91 südlich von Halle festgenommen. Ungeklärt ist bislang unter anderem die Identität der beiden Todesopfer und der Verletzten.

Das PDF-Dokument zum Bekennerschreiben zeigt nach Angaben einer Expertin Bilder von Waffen und enthält einen Verweis auf das Live-Video, das von der Tat verbreitet worden sei, schrieb Rita Katz, Leiterin der auf die Beobachtung von Extremisten spezialisierten Site Intelligence Group, auf Twitter.

In dem Text wird laut Katz das Ziel genannt, »so viele Anti-Weiße zu töten wie möglich, vorzugsweise Juden«. Das Dokument sei anscheinend am 1. Oktober angelegt worden und gebe Hinweise darauf, wie viel Planung und Vorbereitung der Täter in die Attacke gesteckt habe.

Tür unter Beschuss
Die Tür der Synagoge weist Spuren von Beschuss auf. Bei dem Angriff legte der Täter auch selbstgebastelte Sprengsätze vor dem Gotteshaus ab. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa
Die Tür der Synagoge weist Spuren von Beschuss auf. Bei dem Angriff legte der Täter auch selbstgebastelte Sprengsätze vor dem Gotteshaus ab. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

Das Bekennervideo wurde nach Angaben der Streaming-Plattform Twitch von rund 2200 Menschen angesehen, bevor es dann nach 30 Minuten gelöscht wurde. Über den vor etwa zwei Monaten erstellten Account sei zuvor nur einmal etwas veröffentlicht worden.

Eine noch höhere Opferzahl wurde möglicherweise von Defekten an mindestens einer Waffe des Täters verhindert. In dem angeblichen Tatvideo ist zu sehen, wie in mindestens zwei Fällen Ladehemmungen das Leben von Menschen zu retten scheinen. Der Täter setzte eine vermutlich im Selbstbau hergestellte Langwaffe, eine Pistole und Sprengsätze ein.

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, kritisierte die Polizei. »Bei uns gibt es nie Polizeikontrollen«, sagte. Nicht einmal bei der Chanukka-Feier, dem Jüdischen Lichterfest, mit mehreren hundert Menschen gebe es Polizei, »obwohl ich bitte, dass sie kommen.« Anders als beispielsweise in Berlin und München sei die Polizei nicht vor der Synagoge präsent.

Markierungen
Zur Sicherung des Tatorts brachte die Polizei Markierungen auf der Straße an. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa
Zur Sicherung des Tatorts brachte die Polizei Markierungen auf der Straße an. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

Bundespräsident Steinmeier will das jüdische Gotteshaus in Halle besuchen. Geplant ist auch ein Treffen mit Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), wie das Bundespräsidialamt mitteilte. Um 13.30 Uhr wird auch Seehofer an der Synagoge erwartet. Er will um 15.00 Uhr auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Schuster und Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) über die Erkenntnisse informieren.

Nach Einschätzung von Extremismusforscher Matthias Quent wollte der Täter offenkundig eine international verbreitete, rechte Internet-Subkultur erreichen. »Er spricht Englisch, und er greift Verschwörungstheorien auf, zum Beispiel über die angeblich zerstörerische Macht des Judentums. Er äußert sich auch abwertend über Feminismus«, sagte Quent der Deutschen Presse-Agentur.

Döner-Imbiss
Absperrband der Polizei hängt vor dem Dönerladen in Halle. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa
Absperrband der Polizei hängt vor dem Dönerladen in Halle. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

Rechtsextreme Anschläge in Deutschland:

APRIL 1968: Der Rechtsextremist Josef Bachmann schießt auf den Studentenführer Rudi Dutschke und verletzt ihn lebensgefährlich. Dutschke erliegt elf Jahre später den Spätfolgen des Attentats.

SEPTEMBER 1980: Auf dem Oktoberfest explodiert die Bombe eines Rechtsextremen. 13 Menschen, darunter drei Kinder, werden getötet, mehr als 200 verletzt. Noch heute gibt es Zweifel, ob der 21-jährige Gundolf Köhler die Tat allein beging.

MAI 1993: Bei einen Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Großfamilie in Solingen werden fünf Frauen und Mädchen getötet, 14 Menschen werden verletzt. Die vier Täter werden wegen Mordes verurteilt.

NOVEMBER 2011: Die Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) fliegt nach einem Banküberfall in Eisenach auf. Beate Zschäpe und ihren Freunden Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos werden zehn Morde zwischen den Jahren 2000 und 2007 und weitere Verbrechen zugerechnet.

OKTOBER 2015: Kurz vor ihrer Wahl zur Kölner Oberbürgermeisterin sticht ein Rechtsextremist der parteilosen Kandidatin Henriette Reker mit einem Messer in den Hals. Reker überlebt den Mordversuch nur knapp. Der Täter wird zu 14 Jahren Haft verurteilt.

JUNI 2019: Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wird auf der Terrasse seines Hauses erschossen. Der Generalbundesanwalt geht von einem rechtsextremen Hintergrund aus.

Schüsse
Ein Einschussloch in der Schaufensterscheibe des Dönerladens. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa
Ein Einschussloch in der Schaufensterscheibe des Dönerladens. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa