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Nach Anschlägen: Weiter angespannte Lage in Kabul

Zwei Explosionen erschüttern die afghanische Hauptstadt - inmitten des Evakuierungseinsatzes. US-Präsident Biden findet deutliche Worte für die Drahtzieher. Die Lage in Kabul ist weiter angespannt.

Taliban in Kabul
Ein Mitglied der Taliban am Anschlagsort in der Nähe des Flughafens. Foto: XinHua/dpa
Ein Mitglied der Taliban am Anschlagsort in der Nähe des Flughafens. Foto: XinHua/dpa

WASHINGTON. Nach dem verheerenden Anschlag der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) am Flughafen Kabul mit Dutzenden Toten drohen die USA mit Vergeltung. »Wir werden Euch jagen und Euch dafür bezahlen lassen«, sagte US-Präsident Joe Biden am Donnerstag im Weißen Haus.

Zugleich kündigte er die Fortsetzung der Evakuierungen von US-Bürgern und Ortskräften an - trotz der anhaltenden Terrorgefahr. Das Entsetzen in Kabul nach der Bluttat ist groß: Der Platz vor dem Tor, wo am Vortag noch Tausende, die auf einen Evakuierungsflug hofften, Schulter an Schulter standen, war am Freitag menschenleer, wie Fernsehbilder zeigten.

Mindestens zwei Selbstmordattentäter hatten sich am Donnerstag US-Angaben zufolge in der Nähe des Flughafens in den Tod gesprengt. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums wurden 60 bis 80 afghanische Zivilisten getötet, dazu laut Pentagon 13 US-Soldaten. Dutzende weitere Menschen, darunter 18 US-Soldaten, wurden verletzt. Die militant-islamistischen Taliban, die in dem Krisenstaat seit zwei Wochen die Macht haben, sprachen dagegen zunächst nur 13 bis 20 getöteten Zivilisten. Die Nichtregierungsorganisation Emergency sagte der Deutschen Presse-Agentur, allein in ihrem Krankenhaus seien 16 Tote eingeliefert worden. Fernsehbilder vom Anschlagsort zeigten blutverschmierte Steine und am Boden verstreute Kleidungsstücke.

Erstmals seit anderthalb Jahren wieder tote US-Soldaten

Für die US-Streitkräfte waren es die ersten Soldaten seit Februar vergangenen Jahres, die in Afghanistan gewaltsam ums Leben kamen - und die schwersten Verluste dort seit einem Jahrzehnt. Biden ordnete an, die US-Flaggen über dem Weißen Haus und an allen öffentlichen Gebäuden bis Montagabend auf halbmast zu setzen, um der Opfer zu gedenken.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier brachte in einem Kondolenzschreiben an US-Präsident Joe Biden sein Mitgefühl zum Ausdruck. »Wir trauern mit Ihnen um die Opfer des brutalen Anschlags in Kabul. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der tapferen amerikanischen Soldaten, die ihr Leben gaben, um das Leben anderer zu retten«, schrieb Steinmeier.

»Die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin sind voller Entsetzen und Abscheu über diese Terroranschläge«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag in Berlin. »Wie unmenschlich, wie niederträchtig solche Anschläge sind, das ist kaum in Worte zu fassen.«

IS bekennt sich zu Anschlag

Der in Afghanistan aktive Ableger der Terrormiliz IS reklamierte den Anschlag für sich. Biden erklärte mit Blick auf die Gruppe, die USA hätten Informationen dazu, wo sich die Drahtzieher der Anschläge aufhalten - und würden auch ohne große Militäreinsätze Möglichkeiten finden, diese zur Rechenschaft zu ziehen, »wo auch immer sie sind«. Seine eindringlichen Worte an die Terroristen: »Wir werden nicht vergeben. Wir werden nicht vergessen.«

Nach US-Angaben hatten sich mindestens zwei Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Eine der Detonationen ereignete sich demnach an einem Tor zum Flughafengelände, an dem US-Soldaten im Einsatz waren. Eine Reihe von Kämpfern der Terrormiliz IS habe anschließend das Feuer auf Zivilisten und Soldaten eröffnet, sagte US-General Kenneth McKenzie, der das US-Zentralkommando Centcom führt. Er warnte, es müsse mit weiteren Anschlägen gerechnet werden. »Wir tun alles, was wir können, um auf diese Angriffe vorbereitet zu sein«, sagte er. Es handle sich um eine »extrem aktive Bedrohungssituation«.

In Kabul reagierten viele Menschen entsetzt auf den Anschlag. »Ich bin frustriert und enttäuscht«, sagte Hussain, der im westlichen Teil der Stadt lebt, am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. »Alle Menschen hier in Kabul sind frustriert und enttäuscht.«

Helfer am Flughafen
Ein Screenshot aus einem Video zeigt Menschen, die sich um einen Verwundeten in der Nähe des Explosionsortes kümmern. Foto: Uncredited/AP/dpa
Ein Screenshot aus einem Video zeigt Menschen, die sich um einen Verwundeten in der Nähe des Explosionsortes kümmern. Foto: Uncredited/AP/dpa

Wahid, der unweit des Flughafens lebt, sagte er erlebe »die schlimmste Zeit meines Lebens«. Manche Menschen gäben die Schuld für den Anschlag jenen, die aus dem Land flüchten wollten. Andere beschuldigten den Westen, weil sie ihnen die Flucht ermöglichten. Und wieder andere sähen die Verantwortung bei den Taliban, die den Flughafen nicht absicherten.

Das Krisenreaktionszentrum des Auswärtigen Amts schätzt die Sicherheitslage am Flughafen als »hochgefährlich« ein. Es bestehe weiterhin ein hohes Anschlagsrisiko, heißt es in einem Schreiben an deutsche Staatsbürger, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. »Wir raten Ihnen deshalb dringend, sich derzeit nicht zum Flughafen zu begeben.« Es sei noch nicht absehbar, wann der reguläre Flugbetrieb wieder aufgenommen werde.

Evakuierungseinsatz geht weiter

Die internationale Evakuierungsmission in Kabul wurde am Donnerstag zunächst weitergeführt. Die US-Luftwaffe und Flugzeuge Verbündeter hätten am Donnerstag ab dem Vormittag bis kurz vor Mitternacht (Ortszeit Kabul) rund 7500 Menschen evakuiert. Damit sei die Zahl der seit Mitte August ausgeflogenen Afghanen und westlicher Staatsbürger auf 100.100 angestiegen, erklärte ein Vertreter des Weißen Hauses.

Die deutsche Luftwaffe flog am Donnerstag alle Bundeswehrsoldaten, Diplomaten und verbliebenen Polizisten aus dem Krisenstaat aus, wie Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte. Nach Angaben der Ministerin wurden 5347 Menschen aus mindestens 45 Ländern evakuiert, darunter rund 500 Deutsche und mehr als 4000 Afghanen.

Der Evakuierungseinsatz der gut 5000 US-Soldaten in Kabul soll trotz der jüngsten Ereignisse wie geplant am Dienstag kommender Woche enden, wie Biden betonte. Damit können auch die Verbündeten ihre Staatsbürger und frühere örtliche Mitarbeiter nicht mehr evakuieren. Die Bundesregierung und die USA setzen allerdings darauf, dass die Taliban auch nach dem 31. August weiter kooperieren werden, um Ausreisen zu ermöglichen. Im Gegenzug dürften sie auf gewisse Hilfen der internationalen Gemeinschaft hoffen, so die Logik. Biden erklärte: »Sie sind keine guten Kerle, die Taliban. Das meine ich überhaupt nicht. Aber sie haben ein klares Interesse.«

Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte anlässlich des Endes des deutschen Evakuierungseinsatzes: »Wir sind mit Hochdruck und Nachdruck dabei, eben Bedingungen auszuhandeln mit den Taliban darüber, wie weitere Ausreisen auch möglich sein werden.«

Die militant-islamistischen Taliban kontrollieren Kabul und damit auch das Gebiet um den Flughafen. Die Sicherheitslage hatte sich dort zuletzt noch einmal deutlich zugespitzt. Die Bundeswehr hatte bereits am Dienstag berichtet, dass zunehmend potenzielle Selbstmordattentäter des IS in Kabul unterwegs seien. Ähnlich hatte sich Biden geäußert. Die Terrormiliz sei auch ein »erklärter Feind« der Taliban, hatte er Anfang der Woche erklärt. Biden begründete unter anderem mit dieser Terrorgefahr auch sein Festhalten am Abzug der US-Truppen.

Tausende Menschen versuchen weiterhin vor der Gewalt ins Ausland zu fliehen. Seit mehr als einer Woche versammeln sie sich rund um verschiedene Eingänge des Flughafens, um auf einen Evakuierungsflug zu kommen. Dabei herrschten rund um den Flughafen dramatische Zustände.

Flüchtlinge wollen nach Pakistan

Unterdessen brechen immer mehr Afghanen über Land in Richtung Pakistan auf. Täglich überquerten mindestens 10.000 Afghanen die Grenze bei Spin Boldak/Chaman, sagte ein Grenzbeamter. Zuvor seien es an normalen Tagen etwa 4000 gewesen. Die meisten seien auf dem Weg zu Verwandten in Städten und Regionen unweit der Grenze.

Die Taliban hatten Mitte August die Macht in Afghanistan an sich gerissen. Die meisten Einheiten der afghanischen Sicherheitskräfte ergaben sich kampflos, Präsident Aschraf Ghani floh außer Landes. (dpa)