Der britische Premierminister Boris Johnson kämpft nach dem Rücktritt von zwei wichtigen Ministern so stark wie nie zuvor um sein politisches Überleben.
Begleitet von scharfer Kritik an dem Regierungschef legten zunächst Gesundheitsminister Sajid Javid und nur Minuten später auch Finanzminister Rishi Sunak ihre Ämter nieder. Beide nahmen dabei vor allem den Führungsstil des 58-Jährigen ins Visier. Damit ist das Land in eine schwere Regierungskrise gestürzt.
Der Premier habe trotz aller Kritik keinen Kurswandel eingeleitet, betonte Javid in seinem am Abend veröffentlichten Rücktrittsschreiben. »Mir ist klar, dass sich diese Situation unter Ihrer Führung nicht ändern wird.« Sunak schrieb, sein Ansatz und Johnsons seien »zu unterschiedlich«. Mehrere konservative Abgeordnete lobten die Politiker für ihre Haltung.
Zwar versicherten umgehend zahlreiche andere Kabinettsmitglieder wie Vizepremier und Justizminister Dominic Raab oder Außenministerin Liz Truss dem Premier ihre Unterstützung. Zudem gilt Johnson als Stehaufmännchen, hat mehrere Skandale überlebt. Aber die Stimmung innerhalb seiner Konservativen Partei ist am Boden. Der Premier müsse zurücktreten, sagte ein Kabinettsmitglied dem Sender Sky News.
Opposition: Johnson ein »pathologischer Lügner«
Die Opposition frohlockte. »Nach all dem Schmutz, den Skandalen und dem Versagen steht fest, dass diese Regierung jetzt zusammenbricht«, sagte Labour-Parteichef Keir Starmer. Der Oppositionsführer rief weitere Kabinettsmitglieder auf, mit einem Rücktritt ein Zeichen gegen den »pathologischen Lügner« Johnson zu setzen. Noch am Abend wurde bekannt, dass Johnsons Stabschef und enger Vertrauter Steve Barclay neuer Gesundheitsminister wird. Bildungsminister Nadhim Zahawi wechselt ins Finanzministerium.
Direkter Anlass für das Londoner Politbeben ist Johnsons Verhalten im jüngsten Skandal um sexuelle Belästigung durch ein führendes Fraktionsmitglied seiner Tory-Partei. Dass sich der Premierminister kurz vor den Rücktritten in der BBC entschuldigte und einräumte, die Berufung des Abgeordneten Chris Pincher zum sogenannten Vize-Whip sei ein Fehler gewesen, änderte nichts mehr an den Rücktritten - oder war für die beiden Minister sogar der letzte Tropfen.
Die Whips - auf Deutsch wörtlich Peitschen - sollen für Fraktionsdisziplin sorgen. Pincher war vorige Woche zurückgetreten, nachdem Medien berichtet hatten, dass er schwer betrunken zwei Männer begrapscht habe.
Regierung von Entwicklung überrollt
Die Regierung wurde von der Entwicklung überrollt. Dabei lief die Reaktion wie so oft bei Johnson. Zunächst legte der Premier nahe, dass der Fall mit Pinchers Rücktritt abgeschlossen sei. Als der Protest lauter wurde, suspendierte die Tory-Fraktion den Abgeordneten doch. Schließlich berichteten Medien über ältere, ähnliche Vorwürfe, von denen Johnson gewusst habe. Das stritt dessen Sprecher zunächst ab - um dann doch einzuräumen, der Premier sei bereits 2019 über Anschuldigungen gegen seinen konservativen Parteifreund informiert worden. Er habe dies nur vergessen gehabt.
Gesundheitsminister Javid schrieb nun, er habe das Vertrauen in den Regierungschef verloren. Unter Johnsons Führung würden die Tories weder als wertegeleitet angesehen noch dienten sie dem nationalen Interesse. Auch nach dem parteiinternen Misstrauensvotum, das Johnson kürzlich knapp gewann, habe der Premier keinen Kurswandel eingeleitet. Finanzminister Sunak betonte, er sei immer loyal zu Johnson gewesen. »Aber die Öffentlichkeit erwartet zurecht, dass die Regierung richtig, kompetent und ernsthaft handelt.« Auch der ehemalige Brexit-Minister David Frost, dem Ambitionen auf Johnsons Amt nachgesagt werden, rief zum Sturz des Premiers auf.
Johnson am Mittwoch im Parlamentsausschuss
Die Regierungskrise kommt zur Unzeit. Großbritannien kämpft angesichts der immens gestiegenen Lebenshaltungskosten mit einer historischen Krise. Die Inflation ist so hoch wie seit rund 40 Jahren nicht mehr. An diesem Mittwoch senkt die Regierung die Sozialversicherung für Millionen Menschen mit kleineren Einkommen. Johnson hoffte damit auf einen Befreiungsschlag.
Zudem hatte der Premier soeben erst einen Skandal überstanden, bei dem ihn viele Beobachter schon am Ende gewähnt hatten: Die »Partygate«-Affäre um illegale Lockdown-Feiern in der Downing Street. Wegen der Teilnahme an einer der Partys hatte der Premier persönlich eine Geldstrafe zahlen müssen. Er blieb entgegen der Erwartungen auch innerparteilicher Kritiker dennoch im Amt. Dabei half ihm nach Ansicht von Experten auch sein deutliches Eintreten für die Ukraine im Krieg gegen Russland. Nach den Parteiregeln darf es nun ein Jahr lang nicht zu einer weiteren Abstimmung kommen.
Dennoch könnte Johnson nach den Rücktritten von Sunak und Javid aus dem Amt getrieben werden. An diesem Mittwoch heißt es: Showtime! Planmäßig muss sich Johnson einem Liaison Committee stellen, einem Parlamentsausschuss. Die Befragung ist traditionell ein Höhepunkt des Parlamentsjahres. Dabei überbieten sich die Mitglieder oft mit unangenehmen Fragen, sie »grillen« den Premier. Es wird Johnsons erste Schlacht beim nächsten Kampf um sein Amt.
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