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Militär-Experte: Ukrainische Teilerfolge werden überschätzt

Die Gegenoffensive der Ukraine läuft - doch nach Einschätzung eines Militär-Experten gab es bisher keinen operativen Durchbruch. Woran liegt das?

Ukraine-Krieg
Zerstörte Häuser und gepanzerte Fahrzeuge sind in der kürzlich befreiten Stadt Klischtschijiwka bei Bachmut zu sehen. Foto: Alex Babenko/DPA
Zerstörte Häuser und gepanzerte Fahrzeuge sind in der kürzlich befreiten Stadt Klischtschijiwka bei Bachmut zu sehen.
Foto: Alex Babenko/DPA

Die Teilerfolge der Ukraine bei ihrer Gegenoffensive gegen das russische Militär werden nach Ansicht eines Experten überschätzt. »Einzelne Verteidigungslinien der Russen werden verlustreich überwunden, aber es kommt bisher nie zu einem echten Dammbruch«, sagte der Ukraine-Experte des österreichischen Bundesheers, Markus Reisner, der Deutschen Presse-Agentur. »Es müssten alle Alarmglocken schrillen, dass nach 117 Tagen Gegenoffensive noch kein operativer Durchbruch gelungen ist.«

Insgesamt erhalte die Ukraine zu wenig Kriegsgerät, auch um sich gegen die russischen Luftschläge im Hinterland zu wehren. »Nur mit einer verstärkten Fliegerabwehr wären Treffer auf die kritische Infrastruktur zu minimieren.« Sollte erneut die Stromversorgung des Landes schwere Schäden davontragen, breche das Rückgrat auch für die Rüstungsproduktion weg.

»Eigentlich müssten jede Woche vier bis fünf voll beladene Güterzüge mit Kriegsmaterial in die Ukraine rollen«, sagte Reisner. Während die USA sich sehr bewusst über die schwierige Lage seien, sei in der EU die Wahrnehmung des Geschehens unangemessen. »Europa ist dabei, den Moment zu verpassen, an dem wir es nicht mehr im Griff haben und die Situation zugunsten der Russen kippt«, so der Oberst. Die Verbündeten der Ukraine hätten ihre Versprechen über Kriegsgerät nur teilweise erfüllt. Auch die Wirksamkeit zum Beispiel der Leopard-2-Panzer sei weniger groß als erwartet. Von den etwa 90 gelieferten Panzern dieses Typs sei mindestens ein Drittel zerstört oder beschädigt.

Insgesamt seien die Verluste auf beiden Seiten erschreckend hoch. Die zuletzt von der »New York Times« unter Berufung auf US-Militärkreise genannten Zahlen von etwa 160.000 gefallenen und 140.000 verwundeten Russen hält Reisner für glaubwürdig. Auf ukrainischer Seite würden die Verluste auf 80.000 Tote und 120.000 Verletzte geschätzt. Kiew habe obendrein 4500 Militärfahrzeuge verloren, Moskau etwa 12.300, so der Experte mit Verweis auf die unabhängige Plattform Oryx, die versucht, durch Fotos jedes Fahrzeug zu erfassen.

US-Institut: Blogger verschweigen Realität an der Front

Russische Militärblogger üben laut US-Experten in großem Maße Selbstzensur und veröffentlichen nur einen kleinen Teil ihrer Erkenntnisse zum Verlauf des Angriffskrieges gegen die Ukraine. Einige besonders kritische Blogger hätten eingeräumt, dass sie nur 5 bis 15 Prozent ihrer Informationen von der Front preisgäben, schreibt das in Washington ansässige Institut für Kriegsstudien (ISW) in seinem Bericht.

Insgesamt scheine es auf russischer Seite eine breitere Selbstzensur über die taktischen Realitäten an bestimmten Frontabschnitten zu geben. Dies deute darauf hin, dass russische Quellen ihre Berichterstattung über taktische Aktionen absichtlich einschränkten, insbesondere solche mit einem für Russland ungünstigen Ausgang. So habe ein Blogger am 25. September einen Beitrag über Erfolge der ukrainischen Armee nahe Nowoprokopiwka im südukrainischen Gebiet Saporischschja teilweise gelöscht.

Ein anderer berichtete laut ISW davon, dass russische Kommandeure routinemäßig Beschwerden und existierende Probleme verschwiegen, etwa mit Kommunikation, Drohnen, Reifen oder der Bezahlung der Kämpfer. Ein anderer Kommandeur beschwerte sich laut einem Blogger über den ineffizienten Informationsfluss von der russischen Front zu den Entscheidungsträgern.

Ein Blogger habe angemerkt, dass bestimmte Informationen nicht mitgeteilt werden sollten und dass die Fähigkeit, im richtigen Augenblick zu schweigen, eine wichtige Eigenschaft sei. Zensur oder Selbstzensur unter russischen Militärbloggern beeinträchtige auch die Fähigkeit des ISW und des Westens, über die Operationen Russlands zu berichten, schrieb das Institut weiter.

© dpa-infocom, dpa:230929-99-377195/3