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Merkel: Angriff Russlands auf Ukraine »tiefgreifende Zäsur«

Monatelang verzichtete Angela Merkel auf öffentliche Auftritte - auch Putins Angriff auf die Ukraine änderte daran nichts. Nun hat die frühere Bundeskanzlerin ihr Schweigen gebrochen.

Angela Merkel
»Niemals sollten wir Frieden und Freiheit selbstverständlich nehmen«, so Merkel. (Archivbild) Foto: Michael Kappeler
»Niemals sollten wir Frieden und Freiheit selbstverständlich nehmen«, so Merkel. (Archivbild)
Foto: Michael Kappeler

In ihrer ersten Rede seit rund einem halben Jahr hat die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel den russischen Angriff auf die Ukraine als Zäsur bezeichnet. 

»Meine Solidarität gilt der von Russland angegriffenen, überfallenen Ukraine und der Unterstützung ihres Rechts auf Selbstverteidigung«, sagte Merkel in Berlin. Nach monatelanger öffentlicher Zurückhaltung hielt Merkel beim Abschied des langjährigen DGB-Chefs Reiner Hoffmann vor mehr als 200 Gästen die Laudatio.

Sie wolle als Bundeskanzlerin außer Dienst keine Einschätzungen von der Seitenlinie abgeben. Doch sie könne die bereits vor längerer Zeit zugesagte Rede nicht halten, ohne auf den Krieg einzugehen. Zu sehr markiere der Angriff Russlands auf die Ukraine, dieser eklatante Bruch des Völkerrechts, »eine tiefgreifende Zäsur« in der Geschichte Europas, sagte sie.

Merkel spart eigene Russland-Politik aus

Merkel betonte, »dass ich alle Anstrengungen der Bundesregierung sowie der Europäischen Union, der Vereinigten Staaten von Amerika, unserer Partner in der G7, in der Nato und in der Uno unterstütze, dass diesem barbarischen Angriffskrieg Russlands Einhalt geboten wird«. Die Größe und Schwere dieser Herausforderung könne sie ganz gut erahnen. 

»Schon die Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 90er Jahren haben uns vor Augen geführt, wie fragil unsere Friedensordnung ist«, sagte Merkel. Auf ihre eigene Politik als Kanzlerin gegenüber Russland und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ging Merkel nicht ein. Ihre Amtszeit dauerte von 2005 bis 2021. Putin erwähnte sie bei ihrem Auftritt am Abend nicht.

Wie weitreichend die Folgen des Kriegs sein würden, könne seriös noch niemand einschätzen. »Doch dass sie weitreichend sind, das steht außer Frage - vorneweg für die Ukraine, für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die so sehr unter den Angriffen Russlands leiden müssen.« Viele seien verletzt und getötet worden. »Butscha steht stellvertretend für dieses Grauen«, sagte Merkel mit Blick auf die Erschießungen in der Stadt westlich von Kiew.

Die frühere Kanzlerin machte aber auch deutlich, dass die Auswirkungen auch über die Ukraine hinaus spürbar sind: Merkel erwähnte auch steigende Energiepreise und drohende Hungersnöte in Afrika.

Geschlossenheit der EU »überlebenswichtig«

Merkel verwies auf die Millionen Menschen in der Ukraine, »die seit Beginn des Kriegs am 24. Februar Hals über Kopf vor Russlands Angriffen fliehen mussten«. Sie sagte: »In dieser unendlichen Traurigkeit ist es wenigstens ein kleiner, aber wie ich finde großartiger Lichtblick, mit welchem großen Herzen so viele Nachbarländer der Ukraine den vertriebenen und fliehenden Menschen Zuflucht geben.« Beispielhaft nannte Merkel Polen und Moldawien.

»Überlebenswichtig« sei jetzt die Geschlossenheit der Europäischen Union. »Die Römischen Verträge wurden vor 65 Jahren verabschiedet«, so Merkel mit Blick auf die Gründungsdokumente der europäischen Integration. »Wenn wir ehrlich mit uns sind, wissen wir, dass diese 65 Jahre ja im Grunde nicht mehr als ein Wimpernschlag in der Geschichte sind«, so Merkel.

»Niemals sollten wir Frieden und Freiheit selbstverständlich nehmen.« Alle sollten einen »jeweils eigenen Beitrag zur europäischen Einigungsidee leisten«.

Zugleich demonstrierte Merkel Loslassen von einstigen Pflichten. Irgendwie sei morgen schon wieder MPK oder auch übermorgen, sagte sie. Am Folgetag war eine Ministerpräsidentenkonferenz terminiert. Merkel: »Ich krieg den Tag auch ohne rum.«

Merkel will zu Fragen der Gegenwart Stellung nehmen

Am kommenden Dienstag folgt ein weiterer Auftritt Merkels - in Berlin will sie im Gespräch mit dem »Spiegel«-Reporter Alexander Osang zu Fragen der Gegenwart Stellung beziehen.

Merkel und Hoffmann, der den DGB ab 2014 geführt hatte, hatten viele Berührungspunkte in ihrer jeweiligen Laufbahn - unter anderem bei den Kabinettsklausuren auf Schloss Meseberg. Hoffmann wurde im Mai von der ehemaligen SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi abgelöst. Zum Abschied kündigte er an, sich etwa auf europäischer Ebene weiter engagieren zu wollen: »Wer darauf setzen sollte, ich wäre dann einmal weg, den werde ich enttäuschen.«

© dpa-infocom, dpa:220601-99-513692/5