Das Drama ist zurück in London. Mit einem überraschenden Rücktritt als Abgeordneter und wütenden Worten hat Ex-Premier Boris Johnson seine konservative Partei entzweit und die die britische Regierung vor die nächste Zerreißprobe gestellt.
Während am Wochenende erste Forderungen nach einer vorgezogenen Parlamentswahl laut wurden, stehen Regierungschef Rishi Sunak möglicherweise Grabenkämpfe innerhalb seiner Partei bevor. Johnsons eigene Zukunft ist unsicher.
Johnson hatte am Freitag angekündigt, mit sofortiger Wirkung sein Mandat als Abgeordneter niederzulegen - zumindest vorerst, wie er anmerkte. Grund dafür ist offenbar, dass der Konservative das Unterhaus nach Ansicht eines Parlamentsausschusses in der »Partygate«-Affäre um illegale Feiern in Lockdown-Zeiten in der Downing Street belogen haben soll. Die vorgeschlagene Strafe: Zehn Tage Suspendierung - genug, um theoretisch eine Nachwahl in Johnsons Nordwestlondoner Wahlkreis auszulösen. Daraufhin warf der Ex-Premier hin, womit es nun automatisch zu einer Abstimmung kommt.
Der Bericht des Ausschusses ist noch nicht veröffentlicht worden. Doch Johnsons Worte lassen keinen Zweifel daran, zu welchem Schluss die beteiligten Abgeordneten gekommen sein müssen: Er habe ein Schreiben des Ausschusses erhalten, in dem dieser klarmache, entschlossen zu sein, das Verfahren zu nutzen, um ihn aus dem Parlament zu drängen, behauptete der 58-Jährige. Der Ausschuss will sich nun am Montag treffen und den Bericht zeitnah veröffentlichen.
Kritik am Verhalten während der Pandemie
Während der Corona-Pandemie hatten sich Regierungsbeschäftigte immer wieder entgegen Vorschriften in der Downing Street und Behörden zu Feiern mit Alkohol und Musik getroffen. Johnson und Sunak mussten wegen ihrer Teilnahme an einer Veranstaltung jeweils eine Geldstrafe zahlen. Der Ausschuss untersucht, ob Johnson das Parlament in dem Skandal belogen hat. Brisant: Die Mehrheit der Ausschussmitglieder sind Tories, also Parteikollegen Johnsons.
Das hinderte Johnson jedoch nicht daran, seine Rücktrittsankündigung mit wütenden Angriffen in alle Richtungen zu garnieren. In bester Donald-Trump-Manier warf er dem Ausschuss vor, sich als Rache für den Brexit zu einer »Hexenjagd« gegen ihn zusammengeschlossen zu haben, »antidemokratisch« vorzugehen und noch dazu ein »kangaroo court« zu sein, eine Art Scheingericht also. Nicht einen »Schnipsel« eines Beweises für seine Verfehlungen habe der Ausschuss vorgelegt.
Indirekte Kritik an Sunak
An Sunak, seinem Nach-Nachfolger, ließ Johnson indirekt kaum ein gutes Haar. Als er im Sommer 2022 - gedrängt von seiner Fraktion nach einer Reihe von Skandalen - aus der Downing Street auszog, habe die oppositionelle Labour-Partei nur geringen Vorsprung in den Umfragen gehabt. Dieser sei nun massiv gewachsen.
Sunak äußerte sich bislang nicht zu Johnsons Rücktritt. Ihm könnten nun jedoch ernste Folgen der neuen Querelen ins Haus stehen. In London schwirren Gerüchte herum, weitere Abgeordnete würden ihren Rücktritt vorbereiten - der Johnson-Verbündete Nigel Adams kündigte seinen Rücktritt bereits am Samstag via Twitter an. Nadine Dorries, eine andere enge Vertraute des Ex-Premiers, hatte ihr Mandat bereits kurz vor Johnsons Rücktrittsankündigung niedergelegt. Mehren sich diese Fälle - und damit auch Nachwahlen für die entsprechenden Sitze - käme das für Sunak in Zeiten schlechter Umfragewerte zur Unzeit.
Opposition bringt sich in Stellung
Die Opposition bringt sich bereits in Stellung, um den Konservativen erst die Nachwahlmandate und dann die Regierungsmacht abzunehmen. Angesichts der drei Tory-Rücktritte innerhalb von 24 Stunden forderte Labour-Chef Keir Starmer, Sunak müsse endlich sein Rückgrat finden und das Land an die Wahlurnen schicken. Der Chef der oppositionellen Liberaldemokraten, Ed Davey, sprach sich ebenfalls für Neuwahlen aus.
Das politische London zerbrach sich am Wochenende den Kopf darüber, welche Taktik hinter Johnsons Zug steckt. Mehrere Kommentatoren mutmaßten, dass er damit der Suspendierung zuvorkommen wollte. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der strahlende Wahlsieger von 2019 bei der für 2024 geplanten Parlamentswahl doch wieder antritt.
»Wie Sie vielleicht vermutet haben, wird Boris Johnson wahrscheinlich nicht in der Versenkung verschwinden«, schätzte BBC-Korrespondent Chris Mason ein. Manche in der Partei seien der Ansicht, Johnson sei am Ende - andere glaubten, davon sei er noch weit entfernt.
Beste Position für eine Rückkehr?
Der Johnson-Verbündete Jacob Rees-Mogg schrieb in der »Mail on Sunday«, es handele sich definitiv nicht um Johnsons Ende in der britischen Politik. Vielmehr bringe ihn der dramatische Schritt in die beste Position für eine Rückkehr als Parteichef, sollte die Stelle frei werden. Er warnte die Tory-Führung davor, Johnson auf dem Weg zu einem anderen Mandat zu blockieren. »Jeder Versuch, dies zu tun, würde unsere fragile Parteieinheit zerbrechen und die Konservativen in einen Bürgerkrieg stürzen.«
Energieminister Grant Shapps bemerkte dagegen bei Sky News, Johnson habe sich mit seinem Rücktritt selbst von der politischen Bühne zurückgezogen. Die Welt habe die dramatischen Zeiten von Brexit und Corona hinter sich gelassen, Großbritannien befinde sich unter Sunak in einer ruhigeren Phase. Sky-News-Korrespondent Rob Powell erkannte in diesen Aussagen die Botschaft der Regierung, dass Johnson »ein Mann von gestern« sei. Kurzfristig bestehe die Gefahr stärkerer Instabilität bei den Tories. »Aber längerfristig spricht dies für eine breitere Hoffnung in der Regierung, dass diese holprige Zeit dazu führen könnte, dass Boris Johnson den Mittelpunkt der Bühne mitsamt dem Psychodrama verlässt, das ihn so häufig begleitet.«
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