So gespalten wie nach der Zitterpartie bei der ersten Parlamentswahlrunde schien Frankreich selten. Vor Gefahr für das Land beim Sieg des jeweils anderen warnten die konkurrierenden mittigen und linken Kräfte am Montag und mobilisierten schon für die zweite Runde.
Erst in der Nacht stand fest, dass die Mitte-Allianz von Präsident Emmanuel Macron sich mit hauchdünnem Vorsprung vor dem neuen Linksbündnis angeführt von Jean-Luc Mélenchon positionierte. Lange hatten die Hochrechnungen genau andersherum ausgesehen, am Ende standen zwischen den Blöcken gut 20.000 Stimmen. Auch wenn das Präsidentenlager wohl weiter stärkste Kraft im Parlament bleiben wird, ist Macrons absolute Mehrheit, und damit ein simples Durchregieren, in Gefahr.
Das Fernduell der beiden Kontrahenten Macron und Mélenchon ging am Montag gleich weiter - mit Schweigen und schweren Vorwürfen. Macron, für den das Ergebnis der ersten Runde eine kalte Dusche sein muss, setze auf die schon im Wahlkampf praktizierte Strategie, seinen Gegner schlicht zu ignorieren, um keine Angriffsfläche zu bieten. Bei der Eröffnung einer Fachmesse vor den Toren der Hauptstadt hielt Macron eine Rede - zu der Wahlschlappe vom Vorabend verlor er auf der großen Bühne während knapp einer halben Stunde kein Wort.
Manipulationsvorwurf von links
Mit dem Vorwurf der Manipulation sorgten Mélenchon und sein Lager unterdessen für Wirbel. Bei der Darstellung der Ergebnisse habe das Innenministerium vom Linksbündnis unterstützte Kandidaten ausgeklammert, deren Prozente aber eigentlich mitgezählt werden müssten, lautete der Tadel. Kurz gesagt: Das Linksbündnis müsste eigentlich als erster und nicht als zweiter Gewinner dargestellt werden. Die Zeitung »Le Monde«, die die Zuordnung der Kandidaten eigenständig vornahm, sprach dem Linksbündnis mit 26,11 Prozent gegenüber 25,88 Prozent für das Macron-Lager den Sieg in der ersten Runde zu. Nach den offiziellen Zahlen erzielte die Mitte-Allianz mit 25,75 Prozent der Stimmen einen hauchdünnen Vorsprung vor dem Linksbündnis mit 25,66 Prozent.
Ungeachtet der Zahlenspiele gilt ein Sieg des Linksbündnisses in der Endrunde am kommenden Sonntag aufgrund des komplizierten Mehrheitswahlrechts als extrem unwahrscheinlich. Die Prognosen sprechen ihm durchweg etwa 100 Sitze weniger zu als dem Macron-Lager. Damit würde es aber stärkste Kraft der Opposition und könnte für Macron und seine Regierung ungemütlich werden.
Macron hofft auf Stimmen der Republikaner-Wähler
Als politisch mittige Kraft ist Macrons Bündnis nun besser platziert, Stimmen ausgeschiedener Kandidaten abzufangen, Prognosen sehen sie bei 255 bis 310 der insgesamt 577 Sitze im Parlament. Sie hoffen vor allem auf bisherige Wähler der konservativen Republikaner. Diese kamen in der ersten Runde landesweit nur auf 10,42 Prozent und sind nun in vielen Stimmbezirken nicht mehr dabei. Für die Linken dürfte es deutlich schwieriger werden, andere Stimmen anzuziehen. Prognosen rechnen ihnen Chancen auf 150 bis 210 Sitze aus.
Eine untergeordnete Rolle spielte am Sonntag die rechtsnationale Partei Rassemblement National um Marine Le Pen, Macrons unterlegenene Gegenkandidatin in der zweiten Runde der Präsidentenwahl. Die Rechtsaußen-Partei kam zwar auf 18,68 Prozent der Stimmen und dürfte die Zahl ihrer Sitze ordentlich ausbauen, bleibt aber vermutlich unter ihrem Ziel von 60 Abgeordneten. Dabei hatte Le Pen in der Stichwahl der Präsidentschaftswahl noch gut 40 Prozent der Stimmen erhalten.
Größte Gruppe: die Nichtwähler
Die aktuelle Spaltung des Landes ist dabei nicht nur im Ringen unversöhnlicher Blöcke - linker sowie rechter Rand gegen die Mitte - ablesbar, sondern auch im wachsenden Desinteresse vieler desillusionierter Menschen an der Politik. Mit einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von 47,51 Prozent den eigentlich größten Block bildeten am Sonntag nämlich die Nichtwähler.
Die Nationalversammlung ist eine von zwei Parlamentskammern. Sie ist an der Gesetzgebung beteiligt und kann per Misstrauensvotum die Regierung stürzen. Ohne Mehrheit im Parlament ist das Regieren in Frankreich schwierig. Bei Macrons Bangen um die absolute Mehrheit geht es daher auch darum, wie viele seiner Vorhaben er umsetzen kann.
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