BERLIN. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat Deutschland zu einer Kraftanstrengung aufgerufen, um Europa in Zeiten eines neuen Nationalismus krisenfester zu machen.
»Heute müssen wir ein neues Kapitel aufschlagen«, sagte Macron am Sonntag in einer Rede zum Volkstrauertag im Deutschen Bundestag. »Das schulden wir Europa.«
Auch Klimawandel, Handelskonflikte und andere Herausforderungen müssten gemeistert werden. Macron bedankte sich, dass er an diesem Tag im Bundestag reden dürfe; das sei ein großes Signal der Versöhnung. »Unsere Gemeinsamkeiten sind stärker als unsere Unterschiede.« Er forderte mehr Europa, auch eine stärkere Abgabe von nationaler Souveränität. »Dieses neue Kapitel macht uns Angst.«
Denn jedes Land müsse Entscheidungsgewalt teilen, mit anderen Staaten gemeinsam über seine Außenpolitik, seine Zuwanderungs- und Entwicklungspolitik entscheiden. Macron fordert zum Beispiel auch eine europäische Armee. Der Kampf um mehr europäische Souveränität sei nicht gewonnen. »Dieser Kampf wird nie gewonnen sein.« Die Rede schloss mit den Worten: »Es lebe Frankreich. Es lebe Deutschland. Es lebe die deutsch-französische Freundschaft. Es lebe Europa.« Die Zuhörer erhoben sich und klatschten lange Beifall.
Anschließend war Macron bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Kanzleramt zu Gast. Sie kündigte bis zum EU-Gipfel Mitte Dezember weitreichende deutsch-französische Vorschläge an. Man müsse nun »auch wirklich liefern«. Dazu gehören ein neues, milliardenschweres Eurozonen-Budget innerhalb der EU-Haushaltsstrukturen, um ökonomische Ungleichheiten besser abzufedern. Die Höhe ist aber noch unklar.
Um bei Finanzkrisen besser gegensteuern zu können, soll der Rettungsfonds ESM zu einem Europäischen Währungsfonds ausgebaut werden. Streit gibt es um eine Digitalsteuer, um Internetkonzerne wie Amazon und Apple in der EU zur Kasse zu bitten. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) erteilte der raschen Einführung eine Absage. Er wolle zunächst bis Mitte 2020 im Rahmen der 36 Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine Regelung finden, sagte Scholz der Deutschen Presse-Agentur. Klappe das nicht, sei eine EU-Regelung denkbar.
Die französische Regierung wirft der Bundesregierung in der Frage ein Ausbremsen vor. Auch die Grünen, die Linke und die SPD-Linke pochen vehement auf eine Digitalsteuer, da viele Bürger das Abschöpfen der Gewinne dank ihrer Daten für höchst ungerecht halten. Die Bundesregierung fürchtet aber Vergeltungsmaßnahmen der US-Regierung von Präsident Donald Trump gegen deutsche Autokonzerne in den USA.
Der Volkstrauertag wurde 1919 in Erinnerung an die Toten des Ersten Weltkriegs eingeführt. Inzwischen gedenkt man aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Deutschland habe die »blutrünstigen Dämonen des Nationalismus« überwunden, sagte Macron. »Ich bin stolz, dass Frankreich eine Rolle bei dieser Wiederauferstehung gespielt hat.« Man habe nach den zwei Weltkriegen gemeinsam daran gearbeitet, ein europäisches Projekt aufzubauen und sich die Hand zu reichen. Er zitierte in dem Kontext Goethe: »Und so, über Gräber vorwärts.«
Zuvor lasen Nachwuchsfußballer unter anderem von Schalke 04, Hertha BSC, dem FC Liverpool und dem FC Brügge Lebensschicksale von ehemaligen Fußballern ihrer Vereine vor, die als Soldaten gestorben waren. »Tränen haben keine Farbe«, meinte ein Fußballer mit Blick auf die völkerverbindende Kraft des Fußballs. Die Sportler besuchten im Rahmen des Projekts »Football remembers« (»Fußball erinnert«) zuvor Soldatenfriedhöfe, um die Schrecken des Kriegs zu begreifen, und um zu verstehen, dass hinter jedem Grabstein eine Geschichte steht.
Macron und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatten am Vormittag bei einer Begegnung mit Hunderten Jugendlichen aus Europa, Afrika und dem Nahen Osten in einem früheren DDR-Kino appelliert, für ein weltoffenes, friedliches Europa zu kämpfen. »Wir befinden uns an einem sehr wichtigen Zeitpunkt unserer Geschichte«, sagte Macron. »Eine Jugend kann nur die Zukunft aufbauen, wenn sie die Vergangenheit kennt.« Es gehe darum, das Versprechen »Nie wieder Krieg« zu erneuern, betonte Steinmeier. »Es braucht vor allem frische Ideen.« Die Jugendlichen schlugen unter anderem vor, in Lehrplänen europaweit gemeinsame Geschichtsinhalte zu verankern, damit das Verständnis für den Wert eines friedlichen Europas gestärkt wird. (dpa)