Monatelang ging es für die Linke fast nur um Sahra Wagenknecht. Die frühere Fraktionschefin haderte öffentlich mit der Linie - und der Schwäche - ihrer Partei und brachte eine Neugründung ins Spiel. Am Wochenende konterten die Vorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan. Sie scharten alle wichtigen Parteifunktionäre mit einer »Leipziger Erklärung« hinter ihrem Kurs - nicht nur für mehr Umverteilung und Soziales, sondern auch für strikten Klimaschutz und mehr Distanz zu Russland. Eine Breitseite gegen Wagenknecht.
Ob das die Spaltung der Linken abwenden kann? Wagenknecht selbst hielt sich erst einmal bedeckt. Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch bemühte neue Zuversicht. »Leipzig hat die Chance eröffnet, dass die Linke auf die Erfolgsspur zurückkehrt«, sagte er am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur. »Politik, Politik und nochmals Politik ist das schlichte Rezept.«
Herausforderung Fünf-Prozent-Hürde
Die »Leipziger Erklärung« beschreibt die Krise der Linken, die bei der Bundestagswahl und den vergangenen vier Landtagswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war. Im Bundestag ist sie nur deshalb in Fraktionsstärke, weil drei Kandidaten Direktmandate gewannen.
In dem Papier heißt es, die Linke sei eine »historische Errungenschaft«, doch sie sei in Gefahr: »In der Öffentlichkeit wird sogar über die Bildung eines alternativen Parteiprojekts spekuliert. Wir sind dagegen bereit, für unsere gemeinsame Partei zu kämpfen, das historische Projekt einer geeinten, pluralen sozialistischen Partei zu verteidigen und weiterzuentwickeln.«
Zur Klausur in Leipzig hatte das im Juni gewählte Spitzenduo Wissler und Schirdewan nur Funktionäre geladen - den Bundesvorstand sowie die Spitzen der Bundestagsfraktion, der Landesverbände und Landtagsfraktionen. 64 Teilnehmer kamen. Wagenknecht war mangels Parteiamt nicht dabei war.
Die Bundestagsabgeordnete ist mit ihren pointierten Thesen und ihrem Talkshowtalent die vielleicht bekannteste Linke, prominenter auch als die beiden Vorsitzenden. Doch vertritt die 53-Jährige immer wieder andere Positionen als die Mehrheit der Partei. Empörung löste sie in den eigenen Reihen mit einer Rede im Bundestag im September aus, als sie der Bundesregierung vorwarf, einen Wirtschaftskrieg gegen Russland »vom Zaun zu brechen«. Sie will weiter billige Öl- und Gasimporte aus Russland.
Ganz andere Ausrichtung
Wissler und Schirdewan fordern hingegen eine schnelle Abkehr von fossilen Energien und sympathisieren mit den radikalen Klimaschützern der »Letzten Generation«. Auch die »Leipziger Erklärung« plädiert für »ein Vorantreiben der Energiewende«.
Während Wagenknecht beim Ukraine-Krieg eine Mitverantwortung der USA und der Nato sieht, schreibt das Parteipapier die Schuld Russland zu und betont: »Wir bekennen uns zum Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und fordern die volle Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität.« Ein weiterer Dissens: Wagenknecht hatte zuletzt die Grünen als die gefährlichste Partei im Bundestag bezeichnet, während viele Linke diese Rolle der AfD zuschreiben. Die »Leipziger Erklärung« kündigt »klare Kante gegen rechts« an.
Daneben bekräftigt das Papier den linken Markenkern. Darunter ist die finanzielle Umverteilung von oben nach unten, eine »Stärkung des Öffentlichen« bei Grundbedürfnissen wie Wohnen oder Energieversorgung, höhere Hilfen für Arme und eine Überwindung der Schuldenbremse. Für ein Ende des Ukraine-Kriegs werden diplomatische Initiativen gefordert.
Stärke ist das Ziel
Bei den anstehenden Wahlen will die Partei die Regierungsbeteiligung in Berlin und Bremen sichern und in Bayern, Schleswig-Holstein und Hessen möglichst stark werden. Wenig überraschend heißt es: »Unser Ziel ist es daher, die Linke in den kommenden Wahlen zu stärken.«
Wagenknecht äußerte sich zu alldem zunächst nicht. Ihre Vertraute Sevim Dagdelen sagte aber: »Die Erklärung positioniert sich weder klar gegen Waffenlieferungen an die Ukraine noch gegen Energiesanktionen gegen Russland, die der großen Mehrheit der Bevölkerung hier massiv schaden.« Wer zentrale Punkte ausklammere, könne »verlorenes Vertrauen nur schwer wiedergewinnnen«.
Noch bitterer reagierte die ehemalige Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann, ebenfalls eine Vertraute Wagenknechts. »Es sollte nun den Letzten klar geworden sein, dass die Parteispitze Sahra Wagenknecht und ihre Anhänger am liebsten aus der Partei drängen möchte.« Dass Wissler und Schirdewan ein geräuschloser Rückzug Wagenknechts das Liebste wäre, liegt nahe - möglichst, ohne viele Genossen oder Wähler mitzunehmen. Umfragewerte sind für die Parteirebellin indes reizvoll. Mitte November gaben in einer Erhebung für den »Spiegel« bundesweit 20 Prozent der Befragten an, sie könnten sich eine Stimme für eine neue Wagenknecht-Partei vorstellen.
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