Angesichts heftiger Kritik aus der Ukraine hat die Bundesregierung die geplante Lieferung einer gewarteten russischen Turbine für die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 verteidigt. Eine Regierungssprecherin sagte am Montag in Berlin, die Lieferung falle nicht unter die EU-Sanktionen, weil diese sich aus gutem Grund nicht gegen den Gastransit richteten. Bei den Sanktionen gegen Moskau sei ein entscheidendes Kriterium, dass diese der EU und Deutschland nicht mehr schaden sollten als Russland. Über die zuletzt wichtigste Route für russisches Erdgas nach Deutschland erfolgten wegen geplanter Wartungsarbeiten seit Montagmorgen keine Lieferungen mehr.
Das russische Staatsunternehmen Gazprom hatte die Liefermenge durch die Pipeline bereits im Juni deutlich gedrosselt und auf die fehlende Turbine verwiesen, die zur Reparatur in Kanada war. In einer am Sonntag veröffentlichten Erklärung von Außen- und Energieministerium in Kiew hieß es, man sei »zutiefst enttäuscht« über die Entscheidung der kanadischen Regierung, im Fall der Turbine eine Ausnahme von den gegen Russland verhängten Sanktionen zu machen. Wenn der Westen nachgebe, werde ein »gefährlicher Präzedenzfall« geschaffen, der »Moskaus Gefühl der Straflosigkeit«, verstärke. Der Montag war für die Ukraine der 138. Kriegstag seit dem Einmarsch Russlands.
Sorge um kompletten russischen Gas-Lieferstopp
Die Wartungsarbeiten an der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 sollen nach Angaben des Betreibers bis zum 21. Juli dauern. Die angekündigte Abschaltung findet allerdings zum Zeitpunkt großer Sorge um die Gasversorgung und einen möglicherweise dauerhaften russischen Lieferstopp statt.
Deutschland und Tschechien planten daher ein gemeinsames Erdgas-Solidaritätsabkommen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und der tschechische Industrie- und Handelsminister Jozef Sikela unterzeichneten am Montag in Prag eine entsprechende Absichtserklärung. »Wir helfen uns gegenseitig mit der Gasversorgung und werden das auch aus Deutschland für Tschechien tun«, sagte Habeck über die Kooperation innerhalb Europas. Tschechien ist fast komplett von russischen Gasimporten abhängig.
Putin und Erdogan telefonieren zu Getreidekrise
Russlands Präsident Wladimir Putin und der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan haben über mögliche Lösungen des Streits um Getreideexporte aus der Ukraine telefoniert. Es sei Zeit für die Vereinten Nationen, den Plan für einen Getreidekorridor durch das Schwarze Meer umzusetzen, hieß am Montag in einer Mitteilung des türkischen Präsidialamts. Der Kreml teilte mit, es sei auch um die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder gegangen. Die Rede war darüber hinaus von einem geplanten »russisch-türkischen Treffen auf höchster Ebene« in nächster Zeit. Details wurden nicht genannt.
Später am Tag schrieb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Twitter, auch er habe mit Erdogan über Möglichkeiten zur Entsperrung von Häfen und der Wiederaufnahme des Getreideexports gesprochen.
Selenskyj droht nach Angriff russischen »Mördern«
Nach einem Raketenangriff mit zahlreichen Toten im ostukrainischen Gebiet Donezk am Wochenende drohte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj russischen Soldaten mit Konsequenzen. »Die Bestrafung ist für jeden russischen Mörder unvermeidlich«, sagte Selenskyj. »Nach solchen Angriffen werden sie nicht sagen können, dass sie etwas nicht gewusst oder nicht verstanden haben«, sagte der Staatschef in einer Videoansprache in der Nacht zum Montag. Zugleich befahl er dem Militär, besetzte Gebiete im Süden des Landes zurückzuerobern. Zivilisten wurden dort zur Flucht aufgerufen.
Die Zahl der Todesopfer infolge des Raketenbeschusses in Tschassiw Jar stieg unterdessen auf mehr als 30. Der ukrainische Zivilschutz sprach am Montag von insgesamt 31 gefundenen Leichen. Neun Menschen seien seit dem Wochenende lebend aus den Trümmern gerettet worden. Die Räumungsarbeiten dauerten weiter an. Wie viele Menschen noch vermisst wurden, war nicht bekannt. Nach ukrainischer Darstellung wurde bei dem Angriff ein Wohnblock getroffen, der großteils einstürzte. Moskau hingegen sprach von einem rein militärischen Ziel.
Anhaltend russische Angriffe in der Ostukraine
Der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, Igor Konaschenkow, sagte, bei dem Angriff mit präzisionsgelenkten Waffen sei eine Stellung einer ukrainischen Brigade zerstört worden. Seit Kriegsbeginn vor viereinhalb Monaten betont Russland immer wieder, im Nachbarland nur militärische Ziele anzugreifen - auch wenn die vielen zivilen Opfer mittlerweile offensichtlich sind.
Russlands Verteidigungsministerium meldete auch Angriffe in anderen Teilen der Ostukraine. Im Gebiet Charkiw sei ein Lager mit aus dem Ausland gelieferter Militärtechnik zerstört worden, sagte Konaschenkow. In der Region Dnipro sei Munition für die aus den USA gelieferten Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars vernichtet worden. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben nicht.
Reichster Ukrainer gibt Mediengeschäft auf
Der vor dem russischen Einmarsch reichste Ukrainer, Rinat Achmetow, hat wegen der drohenden Aufnahme in ein Register für Oligarchen sein Mediengeschäft aufgegeben. Seine Mediengruppe werde alle TV- und Print-Lizenzen dem Staat überschreiben sowie die Internetmedien einstellen, erklärte Achmetow in einer Mitteilung am Montag. Zur Mediengruppe gehören elf Fernsehsender, die Nachrichtenseite Segodnya.ua und der Online-TV-Service OLL.TV. Mehr als 4000 Menschen arbeiten für die Gruppe. Die Gesamtinvestitionen bezifferte Achmetow auf umgerechnet mehr als 1,5 Milliarden Euro.
Rutte sagt Ukraine in Kiew weitere Waffen zu
Der niederländische Regierungschef Mark Rutte sagte der Ukraine bei seinem ersten Besuch in Kiew seit Kriegsbeginn weitere Waffen zu. »Es ist wichtig, dass wir hier jetzt helfen und dafür sorgen, dass die Ukraine sich selbst verteidigen kann«, sagte Rutte dem niederländischen TV-Sender NOS. Die Niederlande haben der Ukraine nach eigenen Angaben bislang Waffen im Wert von knapp 173 Millionen Euro geliefert, darunter auch Panzerhaubitzen. Fünf der schweren Geschütze wurden bereits geliefert, drei weitere sollen folgen.
Tausende ukrainische Soldaten in Gefangenschaft vermutet
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs werden in der Ukraine offiziellen Angaben zufolge rund 7000 Militärs vermisst. Darunter seien Soldaten, Nationalgardisten, Grenzsoldaten und Geheimdienstleute, sagte der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Der Großteil der Vermissten werde in russischer Gefangenschaft vermutet. Allein die Armee habe dabei etwa 2000 Soldaten als verschollen registriert. Russland will mehr als 6000 Ukrainer in Kriegsgefangenschaft genommen haben - Zahlen, die sich kaum unabhängig überprüfen lassen.
Russische Flughäfen nahe der Ukraine bleiben geschlossen
Wegen des Krieges in der Ukraine verlängerten Russlands Behörden die Flugverbote im Süden des eigenen Landes bis zum 18. Juli. Betroffen sind viele beliebte Sommerferienorte der Russen. Insgesamt elf Flughäfen blieben weiterhin gesperrt, darunter der im Schwarzmeer-Kurort Anapa, in Rostow am Don und in der Großstadt Krasnodar, teilte die Luftfahrtbehörde Rosawiazija in Moskau mit. Russland hatte nach der Invasion in die Ukraine am 24. Februar mehrere Airports geschlossen und die Verbote immer wieder verlängert.
Der Chef der US-Luftwaffe, General Charles Brown, traf unterdessen zu Gesprächen über die militärische Zusammenarbeit in Deutschland ein. Er besuchte am Montag das Taktische Luftwaffengeschwader 73 »Steinhoff« in Laage (Mecklenburg-Vorpommern). Als Reaktion auf den Ukraine-Krieg haben die USA Truppenverstärkungen bei den Nato-Verbündeten in Europa angekündigt.
© dpa-infocom, dpa:220711-99-977944/10