Während Russland im Kampf um die ostukrainische Stadt Sjewjerodonezk offenbar weitere Reserven einsetzt, rechnet die Ukraine mit einem Kriegsende in zwei bis sechs Monaten.
Russland habe mit Artillerieunterstützung »Sturmhandlungen« in Sjewjerodonezk durchgeführt und »seine Gruppierung mit der mobilen Reserve des 2. Armeekorps verstärkt«, teilte der ukrainische Generalstab am Samstag in seinem Lagebericht mit. Die Kämpfe in der Stadt hielten am 101. Kriegstag an. Die Ukraine meldete unterdessen erstmals den Tod eines deutschen freiwilligen Kämpfers.
Angesichts der Belastungen für die Bundesbürger als Folge des Kriegs denkt in Deutschland SPD-Chef Lars Klingbeil darüber nach, wie Kriegsprofiteure stärker zur Kasse gebeten werden können. Die Bürger hingegen sollen möglicherweise weiter entlastet werden. Die Ampel-Koalition wolle angesichts steigender Preise noch vor der parlamentarischen Sommerpause über weitere Entlastungen entscheiden, sagte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich dem Nachrichtenportal t-online.
Ukraine erwartet kein baldiges Kriegsende
Mehr als 100 Tage nach Kriegsbeginn ist ein baldiges Ende nicht in Sicht. »Das kann sich noch zwei bis sechs Monate hinziehen«, sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak in einem Interview mit dem oppositionellen russischen Online-Portal »Medusa«. Am Ende hänge es davon ab, wie sich die Stimmung in den Gesellschaften Europas, der Ukraine und Russlands verändere. Podoljak machte klar, dass es erst Verhandlungen geben werde, wenn sich die Lage auf dem Schlachtfeld ändere und Russland nicht mehr das Gefühl habe, die Bedingungen diktieren zu können.
Er warnte erneut vor territorialen Zugeständnissen an Russland: Das werde den Krieg nicht beenden. Der russische Vormarsch ziele weniger auf die Eroberung konkreter Gebiete als auf die Zerstörung der Ukraine an sich. Podoljak schätzte Zahl der Getöteten und Verwundeten auf russischer Seite auf insgesamt 80.000 Menschen. Dabei eingerechnet seien Tote und Verwundete bei der regulären Armee, den Separatisten und der Söldnertruppe »Wagner«. Allerdings räumte er ein, dass nach einer für Moskau katastrophalen Anfangsphase des Kriegs mit bis zu 1000 Kriegstoten pro Tag die derzeitigen täglichen Opferzahlen bei den russischen und den ukrainischen Truppen »vergleichbar« seien.
Keine Entscheidung in Sjewjerodonezk
Beim Kampf um Sjewjerodonezk scheint es ein Hin und Her zwischen russischen und ukrainischen militärischen Erfolgen und Rückschlägen zu geben. Der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, teilte auf seinem Telegram-Kanal mit, dass die ukrainischen Truppen zuletzt sogar wieder Teile der einstigen Großstadt zurückerobert hätten. Demnach kontrollierten sie inzwischen wieder rund die Hälfte des Verwaltungszentrums. Sjewjerodonezk gilt als letzte größere Stadt in der Region Luhansk, die noch nicht komplett in russischen Händen ist. Fällt sie, hätte Russland ein für sie wichtiges Etappenziel erreicht: die vollständige Kontrolle über das Gebiet Luhansk.
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs sind russische Angriffe auf den Vorort Ustynowka ebenso erfolglos verlaufen wie eine versuchte Bodenoffensive im Raum Bachmut. Die russischen Angriffe zielen darauf ab, die ukrainischen Truppen in Sjewjerodonezk von der Versorgung abzuschneiden und sie einzukesseln. Auch russische Angriffe in der Nacht zu Samstag in Richtung Slowjansk verliefen laut ukrainischem Generalstab erfolglos. Erstürmungsversuche seien in den Ortschaften Bogorodytschne und Wirnopillja zurückgeschlagen worden.
Ukraine spricht von Tod eines deutschen Kämpfers
Die Internationale Legion für die Verteidigung der Ukraine gab am Samstag in Kiew den Tod eines Deutschen bekannt, der sich dem Kampf gegen die russischen Angreifer angeschlossen hatte. Auch drei Freiwillige aus Frankreich, Australien und den Niederlanden seien unter den »gefallenen Waffenbrüdern«. Die Namen der vier Männer wurden ebenfalls genannt, nicht aber Zeitpunkt und Ort ihres Todes. Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin war zu hören, die Botschaft in Kiew bemühe sich um Aufklärung und stehe »mit den ukrainischen Stellen in Kontakt, die entsprechende Nachrichten verbreitet haben«.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte Freiwillige aus der ganzen Welt aufgerufen, sich dem Kampf gegen die russische Armee anzuschließen. Dazu wurde die Legion gegründet, die inzwischen aktiv rekrutiert. Das russische Militär meldet immer wieder die »Vernichtung« von Söldnern, die Zahl der getöteten Ausländer geht nach den Moskauer Angaben in die Tausenden.
Russland: Schulungszentrum für Artilleristen getroffen
Nach Angaben Moskaus zerstörte das russische Militär in der Ukraine ein Zentrum zur Schulung von Artilleristen an westlicher Waffentechnik. »Mit hochpräzisen Luft-Boden-Raketen wurde ein Schlag gegen ein Artillerieausbildungszentrum der ukrainischen Streitkräfte im Raum Stezkiwka im Gebiet Sumy geführt«, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. In dem Zentrum seien die Soldaten an der westlichen Haubitze M777 ausgebildet worden, fügte er hinzu. Auch ein »Lager ausländischer Söldner« im Gebiet Odessa im Süden der Ukraine sei durch einen Raketeneinschlag vernichtet worden.
Sämtliche Angaben zum militärischen Geschehen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Mützenich kann sich China als Vermittler vorstellen
Nach Vorstellung des SPD-Fraktionschefs könnte die chinesische Regierung im Ukraine-Krieg möglicherweise als Vermittler agieren. Grundsätzlich kämen Staaten in Frage, die für beide Seiten akzeptabel seien, etwa jene, die sich bei der Verurteilung Russlands in der UN-Generalversammlung zurückgehalten hätten, sagte Mützenich t-online. »Also etwa Indien, die Volksrepublik China, aber auch Südafrika.« China habe Russland zwar gewähren lassen, aber den Angriffskrieg auch nicht befürwortet, argumentierte Mützenich. Er selbst würde sich wünschen, dass die Vereinten Nationen diese Rolle spielen könnten. »Aber ich bezweifle, dass Russland das will.« Deutschland werde wegen seiner klaren Unterstützung für die Ukraine kaum vermitteln können.
Klingbeil für Beitrag von Kriegsprofiteuren
SPD-Chef Lars Klingbeil will »Krisen- und Kriegsgewinner« stärker besteuern. Dabei hat er vor allem die Mineralölkonzerne im Visier. Es könne nicht sein, dass sich diese »in der Krise die Taschen noch voller machen«, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Er beschäftige sich intensiv mit der Frage, wie mit Krisen- und Kriegsgewinnern umgegangen werde, die von der derzeitigen Lage stark profitierten. Klingbeil zeigte sich in dem Gespräch offen für eine Übergewinnsteuer, um extreme Krisengewinne abzuschöpfen: »Eine Steuer auf Kriegs- und Krisengewinne ist ein Instrument, das auf dem Tisch liegt und das ich sehr überlegenswert finde«, sagte er.
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