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Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Die Kämpfe in der Ukraine gehen uvermindert weiter. Selenskyj fordert noch mehr Druck des Westens auf Moskau. Russland ist indessen nach Meinung Kiews in eine neue Phase des Kriegs übergegangen. Die Entwicklungen im Überblick.

Bombenkrater
Ein Uniformierter inspiziert einen Krater nach einem Luftangriff der russischen Streitkräfte in der Region Luhansk. Foto: Leo Correa
Ein Uniformierter inspiziert einen Krater nach einem Luftangriff der russischen Streitkräfte in der Region Luhansk.
Foto: Leo Correa

Knapp zweieinhalb Monate nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj noch mehr Druck der internationalen Gemeinschaft auf Moskau gefordert.

"Mit jedem Tag des Krieges nehmen die globalen Bedrohungen zu, gibt es eine neue Gelegenheit für Russland, Instabilität in anderen Teilen der Welt zu provozieren, nicht nur hier in Europa", sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache. Derweil aber stürben in der Ukraine Männer und Frauen, "die ihr Bestes geben, damit alle Menschen frei leben können", sagte Selenskyj. "Daher ist viel mehr Druck auf Russland erforderlich."

Selenskyj kritisiert verweigerte Hilfe

Trotz der klare Lage gebe es Länder, in denen Sanktionen gegen Moskau zurückgehalten würden oder Hilfe für die Ukraine blockiert werde, kritisierte Selenskyj. Konkret nannte er jedoch kein Land beim Namen. Dabei sei inzwischen bekannt, dass Russlands Blockade ukrainischer Häfen sowie der Krieg insgesamt eine große Nahrungsmittelkrise provozierten. »Und russische Beamte drohen der Welt auch offen, dass es in Dutzenden von Ländern Hungersnöte geben wird.«

"Tatsächlich kann heute niemand vorhersagen, wie lange dieser Krieg dauern wird", sagte Selenskyj. "Aber wir tun alles, um unser Land schnell zu befreien. Dazu brauche die Ukraine Hilfe ihrer Partner, "aus europäischen Ländern, aus den Ländern der ganzen freien Welt".

Der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes dagegen sagte in einer überaus optimistisch klingenden Prognose ein Ende des Kriegs mit einer russischen Niederlage bis Jahresende voraus. Spätestens Mitte August komme es zu einer Wende an den Fronten, sagte Generalmajor Kyrylo Budanow dem britischen Sender Sky News. »Der Wendepunkt kommt in der zweiten Augusthälfte.«

Bis zum Jahresende werde die Ukraine wieder die Kontrolle über alle ihre Gebiete zurückerlangen, auch über die Halbinsel Krim. Budanow erwartete zudem große Änderungen im Kreml. Seiner Ansicht nach sei ein Putsch gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin bereits im Gang. Beweise für seine Behauptungen legte er nicht vor.

Russland beschießt Gefechtsstände und Munitionslager

Bei neuen Luftangriffen in der Ukraine hat Russland nach eigenen Angaben mehrere Gefechtsstände und zwei Munitionslager im Gebiet Donezk beschossen. Im Zuge der Schläge seien auch 23 Einheiten von Militärtechnik außer Gefecht gesetzt und bis zu 100 ukrainische Kämpfer »vernichtet« worden, sagte der Sprecher der russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Samstag in Moskau. Von unabhängiger Seite überprüfbar waren diese Angaben zunächst nicht. Zu einem möglichen russischen Vormarsch auf ukrainischem Gebiet äußerte sich der Militärsprecher nicht.

Außerdem seien in der Nacht zum Samstag 18 Kommandopunkte und 543 militärische Stellungen mit Raketen und Artillerie beschossen worden, sagte Konaschenkow. Die Schwerpunkte der Angriffe lagen demnach im Gebiet Donezk. Zerstört wurde demnach auch ein Munitionslager der ukrainischen Streitkräfte im Gebiet Cherson. Zuvor hatte Russland erklärt, die Kontrolle über diese Region in der Südukraine zu haben. Die russische Luftabwehr habe außerdem in den östlichen Gebieten Charkiw, Luhansk und Donezk insgesamt 13 ukrainische Drohnen abgeschossen, sagte Konaschenkow.

Kiew sieht »dritte Phase« des Kriegs

Die ukrainische Führung sieht den Beginn der »dritten Phase« des russischen Angriffskriegs und eines damit verbundenen langwierigen Kampfes. »Phase eins« sei der Versuch gewesen, die Ukraine »in wenigen Tagen« zu überrollen, sagte Viktor Andrusyw, Berater im ukrainischen Innenministerium, im Fernsehen. In der zweiten Phase sollten die ukrainischen Streitkräfte in mehreren Kesseln eingekreist und zerschlagen werden. »Und auch das haben sie nicht geschafft.«

In der neuen »dritten Phase« bereiteten die russischen Militärs die Verteidigung der bisher erreichten Geländegewinne vor. »Das zeigt, dass sie einen langen Krieg daraus machen wollen«, sagte Andrusyw. Offenbar denke die russische Regierung, dass sie so den Westen an den Verhandlungstisch und damit die Ukraine zum Einlenken zwingen könne.

Mariupol: Stahlwerk weiter unter Beschuss

Russland hat nach ukrainischen Angaben unabhängig vom Ringen um eine Verhandlungslösung für die Kämpfer im Stahlwerk Azovstal in Mariupol erneut die Industriezone beschossen. Es gebe Angriffe aus der Luft und am Boden, teilte der Mariupoler Stadtratsabgeordnete Petro Andrjuschtschenko am Samstag im Nachrichtkanal Telegram mit. »Die Grausamkeit des Feindes nimmt zu«, meinte er. Es würden nicht nur die Verteidiger von Mariupol selbst angegriffen, sondern auch ihre Familien.

»Gestern haben die Besatzer in den sozialen Netzwerken die persönlichen Kontakte (Telefon, Profile) der Ehepartner ausfindig gemacht«, sagte Andrjuschtschenko. Er veröffentliche bei Telegram auch ein Video, das Luftaufnahmen des Stahlwerks unter russischem Beschuss zeigen soll. Darauf sind auch schwere Explosionen zu sehen. Woher und von wann die Aufnahmen stammen, konnte zunächst nicht von unabhängiger Seite überprüft werden.

Verhandlungen um Azovstal-Verteidiger schwierig

Die Verhandlungen um einen möglichen freien Abzug oder Teilabzug der im Stahlwerk eingekesselten ukrainischen Soldaten gestalten sich nach Darstellung Kiews »äußerst schwierig«. Das sagte die für die Gespräche zuständige ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk, wie die Agentur Unian berichtete.

»Ich teile die Angst und Sorge der Menschen, die den Verteidigern der Festung nahestehen«, sagte sie. Doch es herrsche Krieg. »Und im Krieg geschehen keine Wunder, es gibt nur bittere Realitäten.« Daher helfe in diesem Fall nur ein »nüchternes und pragmatisches Herangehen«.

Wereschtschuk bemüht sich seit Tagen mit Hilfe der UN und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, mit der russischen Seite über einen möglichen Ausweg für die im Stahlwerk der Hafenstadt Mariupol verschanzten ukrainischen Truppen zu sprechen. »Aber die Verhandlungen mit dem Feind sind äußerst schwierig«, sagte sie. »Möglicherweise wird der Ausgang nicht alle zufriedenstellen.«

In die Verhandlungen um die Verteidiger von Azovstal hat sich auch die Türkei eingeschaltet. Das russische Militär lehnt bisher jedes Zugeständnis ab, fordert die Kapitulation der verschanzten Ukrainer. Nach ungenauen Schätzungen halten sich in dem weitläufigen Werk noch rund 1000 ukrainische Soldaten auf, viele von ihnen verwundet. Ein Großteil von ihnen gehört dem Regiment »Asow« an, das von Russen als nationalistisch und rechtsextremistisch eingestuft wird.

In einer Videokonferenz mit Kiew berichtete der stellvertretende Kommandeur des Asow-Regiments, dass seine Einheit bisher rund 6000 russische Soldaten "vernichtet" habe. "Dazu noch 78 Panzer und etwa 100 gepanzerte Fahrzeuge", sagte Swjatoslaw Palamar." Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Ein weiterer Angehöriger des Regiments, David Chimik, berichtete von schwere Kämpfen um das Stahlwerk. Dennoch gab er sich optimistisch. »Wir denken nicht daran, zu Märtyrern zu werden, wir kämpfen um unser Leben und warten auf Unterstützung«, wurde Chimik von der »Ukrajinska Prawda« zitiert.

London: Kreml strebte Kontrolle über Großteil der Ukraine an

Moskau wollte nach Ansicht britischer Geheimdienstexperten mit seinem Angriffskrieg einen Großteil der Ukraine dauerhaft unter pro-russische Kontrolle bringen. Dazu sollten demnach mit großer Wahrscheinlichkeit manipulierte Referenden in dem Land über die Eingliederung in die Russische Föderation abgehalten werden, hieß es am Samstag in einer Mitteilung des britischen Verteidigungsministeriums.

Bisher habe Russland aber lediglich in der südukrainischen Küstenstadt Cherson eine pro-russische Verwaltung installiert. Das zeige, wie die Invasion die politischen Ziele Moskaus verfehle. Die Verwaltung in Cherson habe angekündigt, die Angliederung an Russland voranzutreiben. »Sollte Russland ein Beitrittsreferendum in Cherson abhalten, würde es die Ergebnisse beinahe sicher manipulieren, um eine klare Mehrheit für die Loslösung von der Ukraine zu zeigen«, hieß es in der Mitteilung weiter.

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