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Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Die Ukraine scheint im Abwehrkrieg mit Russland mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Die Bundesregierung fordert von Partnern, bei der Unterstützung ihrem Beispiel zu folgen. Die Entwicklungen im Überblick.

Baerbock und Schallenberg
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und ihr österreichischer Amtskollege Alexander Schallenberg beim Treffen der EU-Außenminister in Luxemburg. Foto: Virginia Mayo/DPA
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und ihr österreichischer Amtskollege Alexander Schallenberg beim Treffen der EU-Außenminister in Luxemburg.
Foto: Virginia Mayo/DPA

Die Bundesregierung hat bei einem EU-Treffen in Luxemburg mit Nachdruck für die deutsche Initiative zur Lieferung zusätzlicher Flugabwehrsysteme an die Ukraine geworben. »Wir von deutscher Seite (...) appellieren eindringlich (...), dass jeder noch einmal in seine Bestände schaut und sichtet, wie die Luftverteidigungsunterstützung ausgebaut werden kann«, sagte Außenministerin Annalena Baerbock. Russland greife ganz gezielt auch die zivile Infrastruktur an.

Verteidigungsstaatssekretärin Siemtje Möller erklärte, die aktuelle Lage mache deutlich, dass die Ukraine mehr Schutz brauche. Im besten Fall könnten künftig Luftangriffe aus weiterer Distanz abgewehrt werden - »also noch bevor russische Flugzeuge ihre Waffen einsetzen können«. Deutschland hatte bereits vor rund einer Woche die Lieferung eines zusätzlichen Flugabwehrraketensystems vom Typ Patriot angekündigt. Es dient zur Bekämpfung von Flugzeugen, taktischen ballistischen Raketen und Marschflugkörpern.

Der per Videokonferenz zugeschaltete ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba forderte die in Luxemburg versammelten Kolleginnen und Kollegen der EU-Staaten auf, nicht zu debattieren, sondern zu handeln. »Wenn wir gemeinsam und ohne Angst agieren, können wir die schlimmsten Szenarien verhindern«, sagte er. Es brauche konkrete und mutige Entscheidungen, um der Ukraine so schnell wie möglich zusätzliche Patriot- und Samp/T-Systeme zur Verfügung zu stellen. Zudem würden auch Raketen, Artillerie und Munition sowie andere Waffen und Ausrüstung gebraucht.

Neue Bedrohungslage

Aus dem Verteidigungsministerium in Berlin hatte es bereits vor einigen Tagen geheißen, die ukrainischen Partner hätten eine veränderte Bedrohungslage gemeldet. Russland nutzt demnach zunehmend industriell produzierte Gleitbomben, die aus großem Abstand von Kampfflugzeugen abgeschossen werden können. Dementsprechend verlagere sich auch das Abwehrgeschehen.

Gegen die mit Flügeln ausgestatteten Gleitbomben hat die ukrainische Seite bislang nicht ausreichend Abwehrmöglichkeiten. Ein Gegenmittel wären mehr Patriot-Flugabwehrsysteme, die mit ihrer Reichweite russische Flugzeuge auf Abstand halten könnten, was aus Sicht von Militärexperten erfolgversprechend wäre. Die drei Systeme, über die Kiew verfügt, werden aber benötigt, um die eigene Rüstungsproduktion und Infrastruktur vor russischen Raketenangriffen zu schützen. Die Ukraine bräuchte also mehr davon.

Verheerende Wirkung von Gleitbomben

Zuletzt setzte Russland nach ukrainischer Zählung täglich mehr als 100 Gleitbomben mit einem Gewicht von 250, 500 oder mehr Kilogramm gegen ukrainische Stellungen ein. Trotz der laut Berichten nicht sehr hohen Präzision werden durch die Detonationen Soldaten in einem größeren Umkreis kampfunfähig gemacht. Ausgebaute Befestigungen werden komplett zerstört.

Aufgrund der geringen Zahl an weitreichenden Flugabwehrsystemen, die auch ballistische Raketen abschießen können, sind auch russische Raketenschläge im ukrainischen Hinterland immer wieder erfolgreich. Seit Mitte März wurden mehrere Wärmekraftwerke und mindestens ein Wasserkraftwerk zumindest stark beschädigt. Für den Sommer wird bereits vor größeren Stromabschaltungen gewarnt.

Hoffen auf die Kontaktgruppe

Konkrete Zusagen für neue Luftverteidigungssysteme für die Ukraine gibt es bei dem EU-Treffen allerdings bisher nicht. Länder wie Spanien, Schweden, Italien und die Niederlande deuteten aber Unterstützungswillen für die deutsche Initiative an. Mit konkreten Ankündigungen wird spätestens bei der nächsten Sitzung der US-geführten Kontaktgruppe zur Koordinierung der internationalen Militärhilfe für die Ukraine gerechnet. Die Teilnehmer des sogenannten Ramstein-Formats wollen sich nach Angaben von Diplomaten am kommenden Freitagnachmittag per Videokonferenz zusammenschalten, wenn bis dahin das geplante neue US-Unterstützungspaket im Wert von 61 Milliarden US-Dollar (57 Milliarden Euro) endgültig beschlossen ist.

Dass das US-Repräsentantenhaus dem Hilfspaket am Wochenende nach langer Blockade zustimmte, wertete Außenministerin Baerbock als großen Durchbruch. »Das ist nicht nur ein guter und wichtiger Moment für die Ukraine, sondern das ist auch ein wichtiger Moment für die Sicherung der Europäischen Friedensordnung«, sagte sie. Der russische Präsident Wladimir Putin nutze derzeit alle vorhandenen Mittel dafür, um die Ukraine zu zerstören und die europäische Friedensordnung anzugreifen.

Biden verspricht Selenskyj schnelle Unterstützung

Kurz vor der Abstimmung im US-Senat über ein neues Ukraine-Hilfspaket hat US-Präsident Joe Biden dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj schnelle Unterstützung in Aussicht gestellt. Biden habe mit seinem Amtskollegen telefoniert, hieß es in einer Mitteilung des Weißen Hauses. Sobald der Senat das Gesetz verabschiedet und Biden es unterzeichnet habe, werde seine Regierung »schnell neue Sicherheitshilfen bereitstellen, um den dringenden Bedarf der Ukraine auf dem Schlachtfeld und in der Luftverteidigung zu decken«.

Die US-Hilfen würden demnach außerdem dazu beitragen, die finanzielle Stabilität der Ukraine aufrechtzuerhalten, kritische Infrastruktur in dem von Russland angegriffenen Land wieder zu errichten und Reformen für die Integration der Ukraine in den euro-atlantischen Raum voranzutreiben.

Kreml: US-Waffenhilfe wird Lage an der Front nicht ändern

Nach Darstellung des Kremls wird das Hilfspaket dagegen keine grundsätzliche Änderung auf dem Schlachtfeld herbeiführen. Die russischen Einheiten seien derzeit auf dem Vormarsch, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. »Natürlich führen die bereitgestellten Gelder und die Waffen, die von diesem Geld geliefert werden, nicht zu einer Änderung dieser Dynamik.« Stattdessen würden sie zu mehr Opfern unter den Ukrainern und zu einer größeren Zerstörung führen, sagte er. Peskow warf den USA vor, sich an der Waffenhilfe für die Ukraine zu bereichern.

Moskau: Russische Armee erobert weiteres ostukrainisches Dorf

Die russischen Streitkräfte eroberten indessen nach eigenen Angaben in der Ostukraine ein weiteres Dorf. Es handele sich dabei um den Ort Nowomychajliwka im Donezker Gebiet, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Damit sei die taktische Lage verbessert worden. Nowomychaliwka befindet sich gut 20 Kilometer südwestlich von der unter russischer Kontrolle stehenden Gebietshauptstadt Donezk entfernt. Von ukrainischer Seite wurde die Eroberung nicht bestätigt. Im Generalstabsbericht war von zurückgeschlagenen Angriffen die Rede. Ukrainische Militärbeobachter hatten den Ort aber bereits in der Nacht als russisch kontrolliert gekennzeichnet.

Fernsehturm im ukrainischem Charkiw eingestürzt

In der ostukrainischen Großstadt Charkiw ist der Fernsehturm bei einem russischen Angriff stark beschädigt worden. Auf Videos in sozialen Netzwerken war zu sehen, wie die Spitze des 240 Meter hohen Turms in die Tiefe stürzte; auch eine Explosionswolke war zu sehen. Gebietsgouverneur Oleh Synjehubow bestätigte, dass ein »Fernsehinfrastrukturobjekt« getroffen worden sei.

»Es gibt derzeit Probleme mit dem digitalen Fernsehempfang«, führte er aus. Menschen seien nicht zu Schaden gekommen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen verwies auf alternative Empfangsmöglichkeiten für das Nachrichtenradio in der Region. Vorläufigen Angaben der Staatsanwaltschaft zufolge sei der Fernsehturm mit einer Luft-Boden-Rakete des Typs Ch-59 angegriffen worden.

Hamburgs Bürgermeister Tschentscher bei Klitschko in Kiew

Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher und sein Kiewer Amtskollege Vitali Klitschko betonten derweil die Verbundenheit ihrer Städte in Zeiten des russischen Angriffskrieges. Nicht nur militärische Hilfe sei wichtig, sondern auch die zivile Unterstützung, sagte Klitschko bei dem Treffen im Kiewer Rathaus, bei dem Tschentscher drei Linienbusse der Hamburger Hochbahn als Gastgeschenk übergab. Der Besuch habe für die Bürgerinnen und Bürger Kiews auch eine symbolische Bedeutung. »Er zeigt, dass wir nicht allein sind«, sagte Klitschko.

Tschentscher war am Morgen mit dem Zug in Kiew angekommen - als erster deutscher Landesregierungschef seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022.

Der Pakt für Solidarität und Zukunft, den Klitschko und er bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn für ihre Städte geschlossen hatten, sei nicht nur ein politisches Signal, sagte Tschentscher. »Gerade auf praktischer Ebene ist es wichtig in so einer schwierigen Situation, in der die Stadt Kiew ja immer noch Angriffsziel russischer Raketen und Drohnen ist, dass das normale Leben weitergehen kann.«

© dpa-infocom, dpa:240422-99-760284/12