Das Weltwirtschaftsforum in Davos hat seinem Ruf als geopolitisches Krisentreffen zum Auftakt alle Ehre gemacht. Der erstmals seit Kriegsbeginn persönlich angereiste ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte in dem Schweizer Skiort eindringlich vor einem »Einfrieren« des russischen Kriegs gegen sein Land.
Zugleich bekräftigte er Hoffnungen auf einen Beitritt zur Nato. Beim Werben um weitere Milliarden und Waffenlieferungen bekam Selenskyj Unterstützung aus der EU und von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
»Jeder eingefrorene Konflikt wird irgendwann wieder aufflammen«, warnte Selenskyj in seiner Rede vor Politikern und Wirtschaftsvertretern. Der Ukrainer spricht sich seit langem dafür aus, den Krieg auf dem Schlachtfeld zu entscheiden, um Russland eine strategische Niederlage zuzufügen. Sein Land verteidigt sich seit fast zwei Jahren mit westlicher Hilfe gegen die russische Invasion. Beinahe ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets steht unter russischer Kontrolle.
Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin warf Selenskyj einmal mehr vor, kein Interesse an einer Friedenslösung zu haben. »Putin ist ein Raubtier, das sich nicht mit Tiefkühlprodukten zufrieden gibt«, betonte der Ukrainer. Er komme immer wieder zurück - für mehr.
Stoltenberg und von der Leyen werben für Ukraine-Hilfen
In den vergangenen Jahren hatte Selenskyj beim Weltwirtschaftsforum in Videoansprachen um Unterstützung für sein Land geworben. Diesmal reiste er selbst an, um den kriegsmüden Westen aufzurütteln. Bei Stoltenberg und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen rannte er damit quasi offene Türen ein.
»Wir müssen der Ukraine nur beistehen - und irgendwann wird Russland verstehen, dass sie einen zu hohen Preis zahlen und einer Art gerechtem Frieden zustimmen«, sagte Stoltenberg voraus. Die Nato-Staaten müssten ihr Möglichstes tun, um den Preis für Russland hochzutreiben. Paradoxerweise sei ein Ende des Krieges ausgerechnet mit mehr Waffen für die Ukraine zu erreichen.
Von der Leyen betonte, die Ukraine müsse in ihrem Widerstand weiter gestärkt werden. »Die Ukraine benötigt Planbarkeit bei der Finanzierung im gesamten Jahr 2024 und darüber hinaus«, sagte sie vor dem Hintergrund noch ausstehender Zusagen auch der EU.
Eine Entscheidung über das neue Hilfsprogramm der EU mit 50 Milliarden Euro für die kommenden vier Jahre erwarte sie zum Sondergipfel Anfang Februar. Zuletzt hatte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban den Beschluss verhindert. Sie persönlich wünsche sich eine einstimmige Lösung, mache von der Leyen klar, ergänzte aber: »Wir bereiten uns auch dafür vor, dass das nicht gelingt.«
Kiew erwartet rasche Richtungsentscheidung über Nato-Beitritt
Selenskyj wünscht sich spätestens beim Nato-Gipfel im Juli in Washington Entscheidungen, die eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Allianz näherbringen. In Davos traf er mit Stoltenberg zusammen und dankte diesem nach eigenen Angaben für die unerschütterliche Unterstützung durch das Militärbündnis.
Russland begründet seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch mit dem Streben des Landes in die Nato. Eine Aufnahme der Ukraine in das Bündnis ist bisher jedoch nicht in Sicht.
Auch Habeck trifft Selenskyj
Der ukrainische Präsident nutzte das Forum mit hochkarätigen Wirtschaftsvertretern auch, um für Investitionen in sein Land zu werben - vor allem mit Blick auf den Wiederaufbau. Die ukrainische Wirtschaft wachse, sagte er.
Wirtschaftsminister Robert Habeck betonte vor einem Treffen mit Selenskyj, die Bundesregierung gebe Firmen Investitionsgarantien, die sie ähnlich wie einer Versicherung absicherten. Das sei »ein ungeheuer erfolgreicher Schritt, der zeigt, dass wir daran glauben und darauf vertrauen, dass die Ukraine diese schwierige Situation erfolgreich besteht, aber auch, dass deutsche Unternehmen in die Ukraine investieren werden«. In Davos wollte er dafür werben, dass auch andere Staaten dieses Instrument nutzten.
Donald Trump: der Elefant im Raum
US-Präsident Joe Biden steht nicht auf der Gästeliste des Weltwirtschaftsforums. Dafür war sein Vorgänger Donald Trump nach dem Vorwahlsieg in Iowa am Dienstag in aller Munde. Politiker und Wirtschaftsvertreter äußerten die Sorge, dass die amerikanischen Ukraine-Hilfen zusammengestrichen werden, sollte Trump bei der Präsidentschaftswahl im Herbst das Rennen machen. Offen ist zum Beispiel, ob die EU dann in die Bresche springen kann.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sagte dem US-Sender ABC News in einem Interview, auch unter schwersten Bedingungen werde sich die Ukraine Russland nicht ergeben. »Selbst wenn uns die Waffen ausgehen, werden wir mit Schaufeln kämpfen.«
Hochkarätiger Besuch aus China
China war in den vergangenen Jahren wegen der Corona-Pandemie nur mit kleinen Delegationen in Davos vertreten. Nun reiste mit Ministerpräsident Li Qiang die Nummer zwei hinter Staatschef Xi Jinping an. Der Wirtschaftsgigant steht im Zugzwang: Nach schwachen Wirtschaftsjahren infolge der Coronapandemie muss China wirtschaftspolitisch erst einmal wieder internationales Vertrauen aufbauen.
In seiner Eröffnungsrede warb Li um ausländische Investitionen und kündigte an, das Land wolle sich weiter öffnen. Ausländische Firmen klagen immer wieder über undurchsichtige gesetzliche Regelungen oder Absprachen zum Vorteil chinesischer Firmen bei öffentlichen Ausschreibungen.
Moskau nennt Davos-Treffen schädlich für Frieden
Moskau kritisiert die Gespräche im Schweizer Davos über eine Friedenslösung in der Ukraine ohne russische Beteiligung als »sinnlos und schädlich«. »Die «Friedensprinzipien für die Ukraine», welche die Organisatoren herauszuarbeiten versuchen, sind a priori nicht lebensfähig, weil sie auf der absurden und inakzeptablen «Formel Selenskyjs» basieren«, sagte die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa. Selenskyjs Formel enthalte zudem noch ein Verbot für Friedensverhandlungen mit Russland, klagte sie.
Kuleba: »Dann kämpfen wir mit Schaufeln«
Angesichts des bröckelnden internationalen Rückhalts bat der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba insbesondere die USA um weitere Militärhilfen und betonte den Kampfeswillen seiner Landsleute. »Was auch immer der Preis für die Unterstützung der Ukraine jetzt ist: Der Preis, im Falle einer ukrainischen Niederlage das Chaos in der Welt zu beseitigen, wird viel höher sein«, sagte Kuleba dem US-Sender ABC News in einem Interview, aus dem am Montagabend (Ortszeit) Auszüge veröffentlicht wurden.
Auch unter schwersten Bedingungen werde sich die Ukraine Russland nicht ergeben, fügte der Minister hinzu: »Selbst wenn uns die Waffen ausgehen, werden wir mit Schaufeln kämpfen. Denn was für die Ukraine auf dem Spiel steht, ist die Existenz dieser Nation.« Für mögliche Friedensverhandlungen mit Russland müsse sein Land erst eine bessere Ausgangslage auf dem Schlachtfeld schaffen, sagte Kuleba.
London: Weiter keine Fortschritte an Front
Nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums haben weder Russland noch die Ukraine in der vergangenen Woche nennenswerte Fortschritte an der Front gemacht. Russland habe es trotz der Einnahme der Kleinstadt Marjinka im Dezember nicht geschafft, daraus Kapital zu schlagen und entweder westlich Richtung Kurachowe oder südlich Richtung Nowomychajliwka vorzustoßen, teilten die Briten mit.
Moskau hatte im Dezember die Einnahme der Stadt gemeldet, ukrainischen Militärangaben zufolge wird am Stadtrand weiter gekämpft.
Die Briten schrieben auf der Plattform X (früher Twitter), die Einkesselung der Stadt Awdijiwka bleibe wahrscheinlich derzeit Russlands wesentliches Ziel. Allerdings habe Russland bisher nur sehr begrenzt Gebietsgewinne erzielt, was zudem mit hohen Verlusten an Material und Personal einhergegangen sei.
Russland: Drei ukrainische Drohnen über Woronesch abgewehrt
Russland wehrte unterdessen laut dem Verteidigungsministerium in Moskau in der Nacht erneut einen ukrainischen Drohnenangriff über der Stadt Woronesch im Grenzgebiet im Südwesten des Landes ab. Drei Geschosse seien von der Luftabwehr zerstört worden, teilte das Ministerium auf Telegram mit. Dabei sei ein Kind leicht verletzt worden, nachdem Fragmente einer abgeschossenen Drohne in eine Wohnung eingeschlagen waren, schrieb der Gouverneur des Gebiets, Alexander Gussew, ebenfalls bei Telegram. Das 2013 geborene Mädchen habe Schnittwunden an Armen, Beinen und Hals. Mehrere Wohnblöcke und Privathäuser wurden laut Gussew beschädigt.
Bei der Verteidigung der Ukraine kommt es immer wieder auch zu Angriffen auf russischem Gebiet. Die russischen Schäden oder Opferzahlen stehen dabei allerdings in keinem Verhältnis zu den schweren Kriegsfolgen in der Ukraine.
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