Nach dem Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kiew stellt sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen noch in diesem Jahr ein. »Heute habe ich positive Signale von der Präsidentin der EU-Kommission gehört hinsichtlich unseres Fortschrittes für einen Start der Verhandlungen«, sagte Selenskyj in einer abendlichen Videobotschaft.
Von der Leyen hatte der Ukraine zuvor bei ihrem sechsten Besuch seit der russischen Invasion vor gut 20 Monaten Reformerfolge bescheinigt. »Sie führen einen existenziellen Krieg, und gleichzeitig sind Sie dabei, Ihr Land tiefgreifend zu reformieren«, sagte sie bei einer Pressekonferenz zu Selenskyj. Von der Leyen hob die Reform des Justizsystems, die Eindämmung des Einflusses der Oligarchen und die Bekämpfung der Geldwäsche hervor. »Dies ist das Ergebnis harter Arbeit, und ich weiß, dass Sie dabei sind, die noch ausstehenden Reformen zu vollenden.«
27 EU-Staaten müssen einstimmig entscheiden
Am kommenden Mittwoch legt von der Leyen in Brüssel den Bericht zu den Reformfortschritten der Ukraine vor. Auf dieser Grundlage wollen dann im Dezember die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union entscheiden, ob Verhandlungen mit der Regierung in Kiew aufgenommen werden. Einem solchen Schritt müssen alle 27 Mitgliedstaaten zustimmen. Die EU hatte die Ukraine schon im vergangenen Jahr wenige Monate nach der russischen Invasion zum Beitrittskandidaten erklärt.
Nun soll dieses Versprechen konkret werden. In einer Rede vor der Obersten Rada, dem ukrainischen Parlament, sagte von der Leyen, die Ukraine erfülle die Voraussetzungen für Verhandlungen zu »deutlich über 90 Prozent«. Diese Aussage deutet daraufhin, dass am Mittwoch noch nicht alle sieben Voraussetzungen für Verhandlungen uneingeschränkt als erfüllt beurteilt werden. Denkbar ist aber ein zweistufiges Verfahren: Die Kommission könnte den EU-Staaten empfehlen, den Start der Beitrittsverhandlungen zu beschließen, den ersten Verhandlungstermin aber erst nach Erfüllung aller Reformauflagen festzulegen.
Selenskyj spricht von »historischem Moment«
Damit würde die EU ein klares Signal des Beistands an die Ukraine senden und sie gleichzeitig zu weiteren Reformanstrengungen ermutigen. Selenskyj sprach bei seinem Treffen mit von der Leyen von einem »historischen Moment«. Diese Entscheidung werde nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Geschichte ganz Europas eine Schlüsselrolle spielen.
Nach der Abreise von der Leyens rief Selenskyj die Ukrainer dazu auf, sich an die Integration in die EU zu gewöhnen. Die Zeit, da die ukrainische Flagge in Brüssel mit den Fahnen anderer EU-Staaten wehen werde, rücke näher. Es gehe nicht darum, dass die EU der Ukraine etwas vorschreibe. »Die Transformation unseres Landes ist etwas, das wir selbst brauchen«, sagte er.
Öfter in der Ukraine als Baerbock und Scholz zusammen
Von der Leyen kam mit einem Sonderzug von Polen nach Kiew, da der Luftraum über der Ukraine immer noch gesperrt ist. Selenskyj empfing sie schon am Bahnhof - eher ungewöhnlich bei solchen Besuchen - und ehrte dort mit ihr zusammen Mitarbeiter der Bahn.
Kaum ein westlicher Spitzenpolitiker hat das Kriegsgebiet so häufig besucht wie von der Leyen. Sie war am Samstag zum sechsten Mal dort und damit häufiger als Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (viermal) und Bundeskanzler Olaf Scholz (einmal) zusammen.
Im April 2022 war von der Leyen die erste Verbündete, die den Kiewer Vorort Butscha nach einem Massaker der russischen Angreifer besuchte und sich dort zwischen ausgebrannten Panzern und schwarzen Leichensäcken bewegte. Vom »grausamen Gesicht von Putins Armee« sprach sie damals, von »Rücksichtslosigkeit« und »Kaltherzigkeit«. Es ging aber auch schon um den EU-Beitritt der Ukraine. »Wir stehen an Eurer Seite, wenn Ihr von Europa träumt«, sagte von der Leyen damals.
Beitrittsverhandlungen können lange dauern
Seitdem arbeitet Selenskyj daran, seinem Land den Traum zu erfüllen. Ob und wann er wahr wird, ist aber offen. Beitrittsverhandlungen können viele Jahre dauern. Einen festen Zeitplan gibt es für so etwas nicht und auch keinen Automatismus, dass am Ende der Beitritt steht. Das mussten auch schon die Staaten des westlichen Balkans schmerzlich erfahren, die seit mehr als 20 Jahren in die EU streben.
Grundsätzlich sind viele in der EU der Ansicht, dass eine Aufnahme von großen Ländern wie der Ukraine auch nur dann zu einem Erfolg werden kann, wenn es zuvor interne Reformen gibt. Die Entscheidungsprozesse im Bereich der Außenpolitik sind beispielsweise schon heute teilweise sehr schwerfällig, weil in der Regel das Einstimmigkeitsprinzip gilt.
Kiew: Weiter schwere Kämpfe um Awdijiwka in Ostukraine
Russische Truppen unternahmen nach Angaben ukrainischer Militärs indes erneut mehrere Vorstöße in Richtung der ostukrainischen Stadt Awdijiwka. Dabei seien über 400 russische Soldaten getötet und zwölf gepanzerte Fahrzeuge zerstört worden, teilte der für diesen Frontabschnitt zuständige Kommandeur Olexandr Tarnawskyj auf Telegram mit. Die russischen Angriffe, unterstützt von Kampfflugzeugen und Artillerie, seien abgeschlagen worden. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Aktuell ist die stark zerstörte Stadt bereits von drei Seiten von russischen Truppen umgeben. Die russisch kontrollierte Gebietshauptstadt Donezk liegt nur wenige Kilometer südlich von Awdijiwka entfernt.
Selenskyj beklagt russische Lufthoheit
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beklagte zudem Defizite in der Flugabwehr seines Landes sowie die Lufthoheit der russischen Streitkräfte. »Russland kontrolliert den Himmel«, sagte er in einem Interview des US-Senders NBC. »Wir brauchen eine bessere Luftverteidigung«, fügte Selenskyj hinzu.
»Gebt uns die Mittel, uns mit Russland am Himmel zu messen«, erneuerte er indirekt seine Forderung nach Kampfflugzeugen aus westlicher Produktion. Daneben benötige die Ukraine noch Drohnen und Waffen zur Abwehr von Drohnen.
Sobald am Himmel eine Art Gleichgewicht hergestellt sei, könnten die ukrainischen Bodenstreitkräfte vorrücken. »Wir können nicht einfach angreifen wie die russischen Streitkräfte«, sagte der ukrainisches Präsident und verwies auf die russische Taktik, Soldaten ohne Rücksicht auf eigene Verluste in den Kampf zu werfen. »Wir brauchen unsere Soldaten.«
Selenskyj: An die Ukraine und ihre Unabhängigkeit glauben
Der ukrainische Präsident rief außerdem zur Einigkeit aller Ukrainer auf und appellierte an seine Landsleute, an ihr Land zu glauben. »An die Ukraine zu glauben bedeutet zu wissen, dass die Ukraine und die Ukrainer ihre Unabhängigkeit bewahren können, sie bewahren werden und sie zurückerhalten werden«, sagte er in seiner allabendlichen Videoansprache. »Wir müssen die Ukraine schützen, und das werden wir - daran habe ich keinen Zweifel.«
Allerdings müssten die Ukrainer dafür an einem Strang ziehen. »Aber genau wie nach dem 24. Februar (dem Beginn der russischen Invasion 2022) kann dies nur gemeinsam geschehen - und nur gemeinsam, in Einigkeit, in Sorge um den Staat, um die Menschen neben Ihnen, um die Ukrainer, wo immer sie sind.« Das Wichtigste sei, die Einheit des Volkes zu bewahren.
»Jede Woche sollte die Ukraine stärker machen, das ist ein Muss«, sagte Selenskyj mit Blick auf weitere Kämpfe in den kommenden Monaten. »Und das ist eine gemeinsame Aufgabe für alle im Land.«
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