Mit Flaggen und Hupkonzerten haben Einwohner der ukrainischen Stadt Cherson das Ende der russischen Besatzung gefeiert. Im Zentrum wurden am Freitag die ersten ukrainischen Soldaten von den Menschen euphorisch mit Umarmungen und Beifall begrüßt, wie auf Fotos und Videos in sozialen Netzwerken zu sehen war. Einige Menschen weinten vor Freude. Die Chancen auf Friedensgespräche im Ukraine-Krieg stehen derweil weiter schlecht. Auch nach dem Abzug russischer Truppen aus Cherson sieht der Kreml kaum Chancen für eine solche Initiative. Russland hat bei einem Raketenangriff ein Wohnhaus getroffen.
Erleichterung über Ende der Besatzung
Auf dem Gebäude der örtlichen Gebietsverwaltung wehte wieder die blau-gelbe Fahne der Ukraine. Ukrainische Soldaten liefen zu Fuß in die Stadt, begleitet vom Jubel und Beifall der Menschen bei lauter Musik. »WCU! WCU!«, riefen die Menschen. Das ist die Abkürzung für die Streitkräfte der Ukraine. Örtlichen Berichten zufolge waren die ukrainischen Einheiten auch bereits in die Kleinstadt Beryslaw unweit des Kachowka-Staudamms eingerückt. Russland hatte zuvor den am Mittwoch angekündigten Rückzug vom rechten Ufer des Flusses Dnipro offiziell für abgeschlossen erklärt. In den Morgenstunden hätten sich die letzten russischen Soldaten auf das linke Ufer des Dnipro auf neue Verteidigungspositionen zurückgezogen.
Moskau sieht kein Ende der »Spezialoperation«
Russland schließe Verhandlungen mit der Ukraine zwar nicht aus, sehe aber keine Bereitschaft Kiews für Gespräche, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitag nach Angaben russischer Nachrichtenagenturen. »Kiew will keine Gespräche, also geht die militärische Spezialoperation weiter«, sagte Peskow. Aus Sicht des Kremls könne die »militärische Spezialoperation« entweder mit dem Erreichen ihrer Ziele oder mit Verhandlungen beendet werden, sagte der Sprecher von Russlands Präsident Wladimir Putin. Friedensgespräche »aus der Position der Stärke« heraus, wie sie die ukrainische Seite beanspruche, seien aber nicht möglich.
Opfer bei Raketenangriff auf Wohnhaus
Bei einem neuen Raketenangriff auf die Ukraine hat Russland nach Angaben aus Kiew ein Wohnhaus in der Stadt Mykolajiw zerstört. »Leider gibt es Tote und Verletzte. Such- und Rettungseinsätze laufen«, teilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Freitag in Kiew mit. Das sei die »zynische Antwort des Terrorstaats« auf die ukrainischen Erfolge an der Front, meinte Selenskyj. Russland lasse nicht ab von seiner »abscheulichen Taktik«. Der ukrainische Gouverneur des Gebietes Mykolajiw, Witalij Kim, teilte am Morgen im Nachrichtenkanal Telegram mit, es seien sechs Tote aus den Trümmern des fünfgeschossigen Wohnhauses geborgen worden.
Moskau und Kiew tauschen erneut Gefangene aus
Russland und die Ukraine haben in dem seit über acht Monaten dauernden russischen Angriffskrieg erneut Gefangene ausgetauscht. »Es ist gelungen, 45 Kämpfer der Streitkräfte zu befreien«, teilte der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak, am Freitag im Nachrichtendienst Telegram mit. Es handele sich dabei um Soldaten und Feldwebel. Wie viele Soldaten an die russische Seite übergeben wurden, wurde zunächst nicht mitgeteilt. Am Vortag hatte der Interimschef des von Russland beanspruchten ostukrainischen Luhansker Gebiets, Leonid Passetschnik, von mehr 35 Soldaten gesprochen, die ausgetauscht worden seien.
London sieht wellenartige Offensive gegen Infrastruktur
Nach Einschätzung britischer Geheimdienste setzt Russland bei seinen Angriffen auf kritische Infrastruktur in der Ukraine auf eine wellenartige Offensive. Dadurch seien weitreichende Schäden an Kraftwerken und Übertragungsstationen entstanden, hieß es am Freitag im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums auf Twitter. Insbesondere die Hauptstadt Kiew sei stark von Stromausfällen betroffen. Bei den jüngsten intensiveren Angriffen, die Ende Oktober stattgefunden hätten, sei erstmals auch ein Wasserkraftwerk Ziel gewesen. Moskau versuche mit diesen Angriffen, die Moral der ukrainischen Zivilbevölkerung zu schwächen.
Verhandlungen über Fortsetzung des Getreide-Abkommens gestartet
Eine Woche vor Ablauf des Abkommens zum Export von ukrainischem Getreide haben in Genf Gespräche zwischen den Vereinten Nationen und Russland zur Fortsetzung der Initiative begonnen. Eine UN-Sprecherin bezeichnete die Gespräche am Freitag als »informell«. Unklar war, ob und wann die Vereinten Nationen über das Ergebnis der Beratungen informieren werden. Das Abkommen wurde im Juli unter der Vermittlung der UN und der Türkei geschlossen und gilt bis 19. November. Ziel war unter anderem, die sichere Durchfahrt von Frachtschiffen durch das Schwarze Meer zu ermöglichen, was Russland nach dem Beginn seines Angriffs auf die Ukraine verhindert hatte. Die Ukraine gehört zu den weltweit wichtigsten Getreideexporteuren.
Baerbock erwartet Signal gegen Moskau von G20-Gipfel
Außenministerin Annalena Baerbock erwartet vom Gipfel der Gruppe der großen Wirtschaftsnationen (G20) auf Bali ein klares Zeichen internationaler Geschlossenheit gegen den russischen Krieg in der Ukraine. Die allermeisten Staaten der Welt und der G20-Runde sähen den Krieg als Völkerrechtsbruch, sagte die Grünen-Politikerin am Freitag nach einem Treffen mit ihrem litauischen Amtskollegen Gabrielius Landsbergis in Berlin. Man habe auch im Rahmen der wirtschaftsstarken Demokratien (G7) und der Vereinten Nationen deutlich gemacht, »dass dieser fatale Bruch des Völkerrechtes von der Gemeinschaft weder akzeptiert noch unterstützt wird. In keinstem Maße.« Dies werde auch die Botschaft des G20-Gipfels auf Bali sein.
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