Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko hat vor einem Zusammenbruch der Versorgung in der ukrainischen Hauptstadt gewarnt. Für den Fall eines Totalausfalls von Strom-, Wärme- und Wasserversorgung sollten die Bürgerinnen und Bürger Vorräte anlegen und auch überlegen, zeitweise außerhalb der Stadt unterzukommen, sagte Klitschko am Samstagabend im ukrainischen Fernsehen.
Die Stadt wolle zudem 1000 Wärmestuben einrichten. Die Stadtverwaltung trat aber einem Bericht der »New York Times« entgegen, die Überlegungen reichten bis zu einer Räumung der Stadt bei einem Blackout. »Das System des Zivilschutzes muss auf verschiedene Szenarien vorbereit sein; aber das heißt nicht, dass wir eine Evakuierung vorbereiten«, teilte Roman Tkatschuk, verantwortlich für die Sicherheit der Stadt, am Sonntag mit.
In Kiew leben nach Angaben Klitschkos derzeit etwa drei Millionen Menschen, darunter 350.000 Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen der Ukraine. Der russische Präsident Wladimir Putin lässt immer wieder gezielt Infrastruktur in der Ukraine bombardieren. Dabei sind auch Anlagen in Kiew beschädigt worden. Die Stadt versucht, das Netz durch gestaffelte Stromabschaltungen zu stabilisieren. Ganze Stadtteile haben stundenweise kein Licht.
Laut humanitärem Völkerrecht müssen eigentlich »alle möglichen Maßnahmen« unternommen werden, um das Leben von Zivilisten sowie grundlegende Infrastruktur wie Kraftwerke oder Wasserversorgung zu schützen.
Ein Zusammenbruch der Versorgung sei das schlimmste Szenario und man werde alles dafür tun, dass es nicht dazu komme, sagte Klitschko. »Aber wir wollen offen sein: Unsere Feinde tun alles dafür, damit diese Stadt ohne Heizung, ohne Strom, ohne Wasserversorgung dasteht - allgemein: dass wir alle sterben.« Er warf Putin zudem vor, die Ukrainer als Volk vernichten zu wollen. »Putin braucht uns Ukrainer nicht. Er braucht das Gebiet, braucht eine Ukraine ohne uns«, sagte Klitschko.
Ukraine meldet Artilleriebeschuss auf Städte im Süden
Russische Truppen beschossen nach örtlichen Behördenangaben in der Nacht zu Sonntag mehrere Städte im Süden der Ukraine. In Saporischschja sei dabei ein Mensch getötet und ein Gebäude der zivilen Infrastruktur zerstört worden, teilte ein Mitarbeiter des Stadtrates ohne nähere Details mit. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, in Saporischschja sei ein Munitionsdepot der ukrainischen Armee getroffen worden.
In mehreren Orten im Gebiet Dnipropetrowsk schlugen demnach Geschosse aus Rohrartillerie und Mehrfachraketenwerfern ein. In dem Ort Myrowe sei ein neunjähriges Mädchen verletzt worden, schrieb der Vorsitzende des Gebietsparlaments, Mykola Lukaschuk, auf Telegram. Die getroffenen Orte liegen auf dem nördlichen Ufer des Flusses Dnipro. Russische Truppen haben das Südufer besetzt und können von dort etwa aus dem Schutz des Kernkraftwerks Saporischschja heraus schießen.
Russland spricht von Beschuss auf Staumauer
Die russischen Besatzer wiederum werfen den ukrainischen Streitkräfte vor, die Staumauer des Dnipro-Staudamms von Nowa Kachowka mit Mehrfachraketenwerfern beschossen zu haben. Es habe aber nur eins von sechs Geschossen die Mauer getroffen und wenig Schaden angerichtet, sagte Ruslan Agajew von der russischen Stadtverwaltung der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zufolge. »Die Staumauer ist heil«, sagte er am Sonntag. Die Angaben waren nicht unabhängig überprüfbar.
Auf der Staumauer läuft einer von zwei Übergängen über den Dnipro im Gebiet Cherson. Die ukrainische Artillerie hat diese Straße schon früher unter Feuer genommen, um Bewegungen russischer Truppen zu verhindern. Ihrerseits befürchtet die Ukraine, dass russische Kräfte den Staudamm sprengen könnten, um die Ufer am Unterlauf des Dnipro zu überfluten.
In dem Gebiet gibt es heftige Kämpfe. Die russische Armee erwartet, dass die Ukrainer ihr die besetzte Gebietshauptstadt Cherson wieder entreißen wollen. Nach Angaben der Besatzungsverwaltung wurden knapp 1000 Zivilisten aus Nowa Kachowka auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim und von dort aufs russische Festland gebracht.
Selenskyj und von der Leyen sprechen über Finanzhilfe
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj über Pläne für ein neues Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von bis zu 18 Milliarden Euro informiert. Sie wolle das Paket, das in monatliche Tranchen von jeweils 1,5 Milliarden Euro gegliedert sein soll, noch in der kommenden Woche in Brüssel vorlegen, erklärte die EU-Kommission zu dem Telefonat. Mit den vorteilhaften Krediten solle ein »erheblicher Beitrag« zum Finanzbedarf Kiews für 2023 geleistet werden. Die Mittel würden die Ukraine zudem unterstützen, für den Weg in Richtung einer EU-Mitgliedschaft weitere Reformen umzusetzen, hieß es.
Selenskyj erklärte über Twitter lediglich, er habe mit von der Leyen über finanzielle Unterstützung für das laufende und das kommende Jahr gesprochen. Weiteres Thema sei die Bedeutung der Getreidelieferungen aus der Ukraine über das Schwarze Meer zur Unterstützung der weltweiten Nahrungssicherheit gewesen.
Iran räumt erstmals Drohnenlieferung an Russland ein
Nach dem Eingeständnis Teherans, Kampfdrohnen an Russland geliefert zu haben, warf der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dem Iran Lügen vor. »Selbst bei diesem Geständnis lügen sie«, sagte der ukrainische Staatschef am Samstag in seiner täglichen Videobotschaft. Die Zahl der von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossenen iranischen Kampfdrohnen übersteige die vom Iran genannten »wenigen« Drohnen, begründete Selenskyj seinen Vorwurf. Der Iran hatte zuvor erstmals Drohnenlieferungen an Russland eingeräumt - sprach aber nur von einer begrenzten Anzahl an Lieferungen vor Beginn des Krieges.
Scholz fordert von Russland klares Nein zu Atomschlag
Bundeskanzler Olaf Scholz will, dass Russland den Einsatz von Atomwaffen im Angriffskrieg gegen die Ukraine eindeutig ausschließt. »Es ist nicht erlaubt, es ist unvertretbar, in diesem Konflikt Nuklearwaffen einzusetzen«, sagte Scholz am Samstag beim SPD-Debattenkonvent in Berlin. »Wir fordern Russland auf, dass es klar erklärt, dass es das nicht tun wird. Das wäre eine Grenze, die nicht überschritten werden darf.«
© dpa-infocom, dpa:221106-99-403290/6