Im ersten Telefonat seit Monaten mit Kreml-Chef Wladimir Putin hat Bundeskanzler Olaf Scholz auf eine diplomatische Lösung des Ukraine-Krieges gedrungen. »Russland muss seine Truppen aus der #Ukraine zurückziehen und die Souveränität und territoriale Integrität anerkennen. Anders ist eine diplomatische Lösung nicht vorstellbar«, schrieb der SPD-Politiker nach dem 90-minütigen Telefonat auf Twitter.
Am Tag des Gesprächs meldete die Ukraine weitere Geländegewinne im Nordosten des Landes, die über die Ukraine hinaus Hoffnung auf eine Wende des Krieges schüren. Demnach zogen sich russische Truppen nach ihrer Niederlage in der Region bei Charkiw am Dienstag aus ersten Orten im Nachbargebiet Luhansk zurück. Die USA dämpften nach dem ukrainischen Vormarsch jedoch die Euphorie: Die Fortschritte seien bedeutsam, doch sei es zu früh, die weitere Entwicklung zu beurteilen, sagte US-Außenminister Antony Blinken in Mexiko. Zugleich ermunterte die US-Botschaft in Berlin Deutschland und andere Verbündete, bei der Militärhilfe »so viel Unterstützung wie möglich zu leisten«.
Deutschland ringt indes immer stärker mit den Folgen des Krieges. Scholz rief dazu auf, die Preis- und Energiekrise gemeinsam zu überwinden. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) stellte Mittelständlern mit hohem Energiebedarf Zuschüsse für ihre Gas- und Stromkosten in Aussicht. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger verwies jedoch auf erhebliche Rezessionsängste der Unternehmen. Verbraucher dürften sich zudem wegen der stark steigenden Preise sorgen: Das Statistische Bundesamt meldete für August einen Sprung der Inflationsrate auf 7,9 Prozent. Der Deutsche Städtetag wiederum warnt vor Engpässen bei der Unterbringung von Ukraine-Flüchtlingen.
Ende der monatelangen Funkstille
Scholz telefonierte nach Angaben eines Regierungssprechers zuletzt Ende Mai mit Putin - damals zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Seither hat es im Kriegsgebiet weitere dramatische Entwicklungen gegeben. So ging es in dem Gespräch am Dienstag nach Angaben aus Berlin nun auch um die Lage am Atomkraftwerk Saporischschja, das immer wieder beschossen wurde und von russischen Truppen besetzt ist.
Scholz habe die Notwendigkeit betont, die Sicherheit des Atomkraftwerks zu gewährleisten, teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit mit. Thema sei auch die globale Lage der Versorgung mit Lebensmitteln gewesen, die infolge des Krieges angespannt ist. Die Bundesregierung teilte mit, Scholz und Putin hätten vereinbart, weiterhin in Kontakt zu bleiben.
Ukraine meldet russischen Rückzug auch aus Teilen von Luhansk
Im Kriegsgebiet hatte sich in den vergangenen Tagen das Blatt gewendet: Das ukrainische Militär gewann im Osten und Süden des Landes Gebiete zurück, während die russischen Besatzer überstürzt abrückten.
In einer Woche wurden nach Angaben der ukrainischen Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar im Gebiet Charkiw mindestens 300 Ortschaften mit knapp 150.000 Einwohnern auf 3800 Quadratkilometern befreit. Russische Truppen zogen sich auch aus ersten Orten im Nachbargebiet Luhansk zurück, wie der dortige ukrainische Militärgouverneur Serhij Hajdaj mitteilte. Unabhängig zu überprüfen waren diese Aussagen zunächst nicht.
Mithilfe westlicher Waffen will Kiew die Regionen Luhansk und Donezk zurückerobern. Russland hatte die vollständige Einnahme von Luhansk im Juli gemeldet. In Donezk halten die Ukrainer eigenen Angaben zufolge derzeit rund 40 Prozent des Gebiets.
Kreml: Keine Generalmobilmachung
Die russische Führung um Präsident Wladimir Putin gibt sich trotz der Rückschläge unaufgeregt. Es sei keine Generalmobilmachung geplant, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow laut Agentur Interfax. Doch werden in Moskau Rufe nach Konsequenzen lauter - darunter auch nach einer teilweisen oder vollständigen Mobilmachung, um die ausgegebenen Ziele der sogenannten Spezialoperation zu erreichen.
Zugleich gibt es Hinweise auf vermehrte Kritik an Putin. Dutzende Lokalpolitiker in Russland forderten seinen Rücktritt. Es kämen neue Unterstützer hinzu, schrieb die Abgeordnete eines St. Petersburger Bezirksrats, Xenia Torstrem, auf Twitter. Die direkten Auswirkungen solcher Protestaktionen dürften aber gering sein. Seit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar geht Russlands Justiz besonders hart gegen Oppositionelle und Andersdenkende vor.
Briten sehen Rückschlag für Eliteeinheit
Auch die strategische Lage nach den jüngsten Erfolgen der Ukraine ist nicht leicht einzuschätzen. »Wir haben eindeutig bedeutende Fortschritte bei den Ukrainern gesehen, insbesondere im Nordosten«, sagte US-Außenminister Blinken in Mexiko und lobte den Mut der Ukrainer. Doch fügte er hinzu, es sei zu früh zu sagen, wie sich die Lage weiterentwickeln werde. »Die Russen haben in der Ukraine weiter sehr umfangreiche Streitkräfte sowie Ausrüstung, Waffen und Munition.«
Nach Einschätzung der britischen Geheimdienste sind führende Einheiten der russischen Armee jedoch enorm geschwächt. Betroffen sei auch die Erste Gardepanzerarmee, die zu den prestigeträchtigsten Einheiten des russischen Militärs gehört. Teile dieser Einheit hätten sich vergangene Woche aus der Region Charkiw zurückgezogen.
Stromausfall in Charkiw
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte erneut von den westlichen Verbündeten mehr Waffen - in diesem Fall Luftabwehrwaffen, da Russland in den vergangenen Tagen unter anderem Stromnetze in der Ukraine attackiert hatte. Auch am Dienstag gab es Stromausfälle in Charkiw. Deutschland hat der Ukraine das moderne Luftabwehrsystem Iris-T zugesagt. Die Ukraine hofft auf eine schnelle Lieferung.
»Deutschland, wir warten auf Dein Wort«
Selenskyjs Berater Mychajlo Podoljak kritisierte das deutsche Zögern bei Panzerlieferungen. "Sechs Monate lang gibt es keine Panzer, weil es keine "politische Entscheidung" dafür gibt", schrieb er auf Deutsch bei Twitter. Russland könne deswegen den "Terror" fortsetzen, Ukrainer müssten sterben. »Deutschland, wir warten auf Dein Wort«, richtete sich Podoljak an Berlin.
Dort wird über die Abgabe weiterer Waffensysteme weiter gestritten, auch mit Blick auf Panzer. Die Debatte tritt aber weitgehend auf der Stelle: Kanzler Scholz und die SPD sind zurückhaltend und wenden sich gegen »Alleingänge«. Die Koalitionspartner Grüne und FDP machen Druck.
Die US-Botschaft in Berlin ermunterte Deutschland, bei der Militärhilfe für die Ukraine »so viel Unterstützung wie möglich« zu leisten. »Die Entscheidung über die Art der Hilfen liegt letztlich bei jedem Land selbst«, schrieb die Vertretung auf Twitter.
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