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Karlsruhe weist Verfassungsschutz in die Schranken

Verdeckte Ermittler, Ausspähen von Wohnungen, Online-Durchsuchungen: Am Beispiel Bayerns schreibt Karlsruhe erstmals en détail vor, an was sich der Verfassungsschutz halten muss, wenn er Menschen heimlich überwacht.

Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz
Die weitreichenden Befugnisse des bayerischen Verfassungsschutzes verstoßen teilweise gegen Grundrechte. Foto: Peter Kneffel
Die weitreichenden Befugnisse des bayerischen Verfassungsschutzes verstoßen teilweise gegen Grundrechte.
Foto: Peter Kneffel

Das Bundesverfassungsgericht schützt unbescholtene Bürger besser davor, ungerechtfertigt ins Visier des Verfassungsschutzes zu geraten.

Die Karlsruher Richterinnen und Richter gaben am Dienstag einer Verfassungsbeschwerde gegen das besonders weitgehende bayerische Verfassungsschutzgesetz in vielen Punkten statt. Nach Einschätzung von Landesinnenminister Joachim Herrmann (CSU) laufen die Vorgaben des mehr als 150-seitigen Grundsatzurteils darauf hinaus, dass auch die anderen Länder und der Bund ihre Gesetze überarbeiten müssen.

Das bayerische Gesetz muss bis spätestens Ende Juli 2023 angepasst werden. Betroffen sind unter anderem die Regelungen zum Ausspähen und Abhören von Wohnungen, zur Online-Durchsuchung und zur Handy-Ortung, zum Einsatz sogenannter V-Leute und zu längeren Observationen.

Sie verstoßen gegen Grundrechte wie das Fernmeldegeheimnis oder den Schutz der informationellen Selbstbestimmung. Bis zur Reform dürfen die Instrumente nur noch eingeschränkt eingesetzt werden. Die Befugnis, Auskunft über Daten aus Vorratsdatenspeicherung zu ersuchen, erklärte der Erste Senat direkt für nichtig.

»Gehaltvolle grundrechtliche Schranken«

Gerichtspräsident Stephan Harbarth sagte bei der Urteilsverkündung, das Grundgesetz lasse dem Gesetzgeber »substanziellen Raum, den sicherheitspolitischen Herausforderungen auch im Bereich des Verfassungsschutzes Rechnung zu tragen«. »Zugleich setzt die Verfassung hierbei gehaltvolle grundrechtliche Schranken.«

Ein zentraler Punkt der Entscheidung ist, dass für die Verfassungsschutzbehörden zum Teil andere Anforderungen gelten als für die Polizei, die selbst zum Eingreifen befugt ist. Vereinfacht gesagt: der Verfassungsschutz darf mehr bei der Überwachung. Dafür gelten umso strengere Regeln, wenn es darum geht, die gewonnenen Daten an andere Behörden weiterzugeben. Im Einzelnen heißt das:

Heimliche Überwachung:

Hier reicht als Voraussetzung in der Regel ein »hinreichender verfassungsschutzspezifischer Aufklärungsbedarf«. Anders als bei der Polizei muss keine Gefahr vorliegen. Einzige Ausnahme: wenn Maßnahmen »zu einer weitestgehenden Erfassung der Persönlichkeit führen können«. Besondere Anforderungen gelten auch, wenn Unbeteiligte mit in die Überwachung geraten. Grundregel ist: Je tiefer eine Maßnahme in Grundrechte eingreift, desto dringender muss das »Beobachtungsbedürfnis« sein. In bestimmten Fällen muss künftig eine unabhängige Stelle die Maßnahme vorab kontrollieren.

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Die Weitergabe an andere Behörden ist nur zulässig, wenn sie dem »Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsguts« dient. Je nachdem, welche Stelle die Daten bekommt, unterscheiden sich die Anforderungen. Eine Strafverfolgungsbehörde darf beispielsweise nur dann Informationen vom Verfassungsschutz erhalten, wenn es um besonders schwere Straftaten geht.

Das bayerische Gesetz war 2016 auf Bestreben der CSU grundlegend überarbeitet worden - unter anderem um die Zusammenarbeit von Nachrichtendiensten und Polizei zu verbessern. Minister Herrmann hatte die Reform damals auch mit der wachsenden Bedrohung durch islamistischen Terrorismus und Rechtsextremisten begründet.

Unmittelbar nach der Verkündung kündigte Herrmann an, das Urteil möglichst schnell umzusetzen. »Es müssen wahrscheinlich der Bund und alle Länder ihre Gesetze ändern«, sagte er in Karlsruhe. »Denn es gibt nach meiner Kenntnis kein einziges Gesetz, das all diesen Vorgaben, die heute formuliert worden sind, entspricht.«

Bayerns Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) sagte in München, es seien keine Befugnisse verboten worden. Vielmehr müsse der Gesetzgeber nun die Voraussetzungen konkreter regeln.

Bundesweite Auswirkungen

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die die Verfassungsbeschwerde koordiniert hatte, rechnet ebenfalls mit bundesweiten Auswirkungen. »Dieses Urteil strahlt in die ganze Republik aus«, erklärte einer ihrer Prozessbevollmächtigten, Bijan Moini. GFF-Sprecherin Maria Scharlau sagte in Karlsruhe: »Auch Verfassungsschutzämter, die ja die Verfassung schützen sollen, müssen sich an die Grundsätze der Verfassung selbst halten. Klingt selbstverständlich, musste aber erst errungen werden.«

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) erklärte: »Die Entscheidung gibt uns deutlichen Rückenwind für das Programm unseres Koalitionsvertrags zur Stärkung der Bürgerrechte.« So sei vereinbart, die Schwelle für den Einsatz von Überwachungssoftware hochzusetzen.

Als Kläger hatte die GFF drei Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) gewonnen, die im bayerischen Verfassungsschutzbericht als »linksextremistisch beeinflusste Organisation« erwähnt wurde. Im kürzlich vorgestellten Bericht für das Jahr 2021 taucht sie erstmals nicht mehr auf.

Gegen die umstrittenen Gesetzesänderungen hatte 2017 auch die Landtagsfraktion der Grünen Klage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof eingereicht. Darüber wurde bislang nicht entschieden - der Ausgang dürfte nun aber vorgezeichnet sein.

© dpa-infocom, dpa:220426-99-50869/2