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Kampf um Johnson-Nachfolge: Die Schlammschlacht beginnt

Immer mehr konservative Politiker werfen ihren Hut für die Nachfolge von Boris Johnson in den Ring. Der Premierminister will bis zu einer Entscheidung im Amt bleiben - für die Partei könnte das Folgen haben.

Rishi Sunak
Ex-Finanzminister Rishi Sunak ist der bisher prominenteste Bewerber um die Nachfolge des zurückgetretenen Tory-Parteichefs Johnson. Foto: Justin Tallis
Ex-Finanzminister Rishi Sunak ist der bisher prominenteste Bewerber um die Nachfolge des zurückgetretenen Tory-Parteichefs Johnson.
Foto: Justin Tallis

Die Nerven in der Konservativen Partei liegen blank, der Kampf ums Erbe von Boris Johnson dürfte zu einer Schlammschlacht werden.

»Die nächsten Wochen werden furchtbar«, zitierte die Zeitung »Times« ein anonymes Kabinettsmitglied. Die Partei werde letztlich zerrissen werden. Kaum hatte der britische Premierminister seinen Rückzug angekündigt, brachen die Gräben auf. Bereits am Abend fielen potenzielle Kandidaten und ihre Unterstützer in einer Mischung aus Untergangsstimmung und Bürgerkrieg auf einer Party übereinander her.

Da gibt es Vorwürfe über außereheliche Affären, Verletzungen der Corona-Regeln und dubiose Wirtschaftsverbindungen, wie die »Times« schrieb. Abgeordnete würden daran erinnert, welche Leichen die anderen Bewerber im Keller haben. Die Partei will den Auswahlprozess bis zur Sommerpause des Parlaments am 21. Juli durchpeitschen. »Das bedeutet, dass Westminster kommende Woche einen täglichen Mix aus Verrat, Pakten und Brutalität erleben wird«, kommentierte das Blatt.

Befürchtet werden bis zu 15 Bewerber

Bis Dienstag ist Zeit für Bewerbungen, wie die Zeitung »Telegraph« berichtete. Das zuständige Parteikomittee wolle bei seiner Sitzung an diesem Montag den Auswahlprozess reformieren. Demnach müssten Interessenten die Rückendeckung von 20 Abgeordneten haben und nicht mehr von 8. Damit solle die Zahl auf die »ernsthaften« Kandidaten reduziert werden. Bis zu 15 Bewerber werden befürchtet.

An Ex-Finanzminister Rishi Sunak, der die Unterstützung ranghoher Tories genießt, ist beispielhaft zu sehen, wie zerrissen die Partei ist. Die einen loben den 42-Jährigen für seine Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung in den Himmel. Die anderen schmähen den Politiker, der der erste Premier mit asiatischen Wurzeln wäre, als Sozialisten. Obwohl er sich lange dagegen wehrte, hatte Sunak im Kampf gegen explodierende Kosten eine zusätzliche Steuer auf Gewinne von Energiekonzern erlassen. Ähnlich dürfte es auch anderen Kandidatinnen und Kandidaten ergehen.

Liberale Analysten lassen ohnehin kein gutes Haar am Bewerberfeld. »Die gute Nachricht: Johnson ist auf dem Weg nach draußen. Die schlechte: Schaut Euch an, wer auf dem Weg rein ist«, kommentierte Marina Hyde in der Zeitung »Guardian«. Zum Beispiel Ex-Außenminister Jeremy Hunt. »Jeremy Hu: Entschuldigung, ich war schon gelangweilt, bevor ich seinen Namen fertig geschrieben habe«, so die Kolumnistin.

Der beliebteste Tory verzichtet

Geht es nach der konservativen Basis, haben Handelsministerin Penny Mordaunt und Außenministerin Liz Truss, die sich am späten Sonntagabend bewarb, ebenso wie Sunak gute Aussichten. Der beliebteste Tory, Verteidigungsminister Ben Wallace, verzichtet. Die Vorauswahl treffen die 358 Abgeordneten der Parlamentsfraktion. Erst wenn noch zwei Bewerber über sind, entscheiden die Parteimitglieder. Wie viele das sind, ist unbekannt: Schätzungen reichen von 100.000 bis 200.000.

Wenn das Rennen dann entschieden ist - laut »Telegraph« soll das bis zum 5. September der Fall sein -, dürfte die Schlammschlacht noch lange nicht vorbei sein. Viele Stimmen fordern bereits, dass die Siegerin oder der Sieger eine Neuwahl ausruft. Ansonsten hätten Gegner leichtes Spiel, dem neuen Bewohner von Downing Street Nummer 10 die Legitimität abzusprechen.

Das Problem: In Umfragen liegen die Tories deutlich hinter der oppositionellen Labour-Partei. Das spiegelt sich in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im »Times«-Auftrag wider: Hätte die Öffentlichkeit die Wahl, hießen die aussichtsreichsten Bewerber mit großem Vorsprung »keiner von ihnen« und »weiß ich nicht«.

Kaum jemand rechnet mit einem stillen Rückzug Johnsons

Und dann ist da noch Boris Johnson. Der Schatten des Noch-Premiers dürfte noch lange über seiner Partei schweben. Zumal Johnson wohl keinesfalls im Stillen abtreten wird. Schon bei seiner Rückzugsankündigung begann der 58-Jährige, eine Dolchstoßlegende zu stricken. Die Partei habe die »exzentrische« Entscheidung getroffen, dass eine neue Führung nötig sei, trotz seiner Erfolge und des »überwältigenden Mandats«, sagte Johnson da. Von Einsicht keine Spur. Das Wort »Rücktritt« nahm der Populist nicht in den Mund.

Johnson hat noch immer Unterstützer. Die Partei werde den Tag bereuen, an dem sie den Premier absägte, schimpfte der Abgeordnete Christopher Chope. Die Atmosphäre ist aufgeheizt. Kulturministerin Nadine Dorries, Johnson treu ergeben, monierte, die Nachfolgesuche habe »die Höllenhunde entfesselt«. Die neue Staatssekretärin für Bildung, Andrea Jenkyns, zeigte Regierungsgegnern den Mittelfinger. Anhänger verwiesen auf Johnsons Vorbild Winston Churchill, der 1951 nach einigen Jahren Pause noch einmal Premierminister wurde. »Schreibt ihn nicht ab«, werben die Unterstützer.

Zwar beeilen sich alle bisherigen Kandidaten, sich von Johnson loszusagen. Notwendig sei ein »Neustart«. So kündigte etwa Kemi Badenoch an, sie wolle den Menschen wieder die Wahrheit sagen. Aber auch Badenoch war Mitglied in der Regierung. Sie schwieg über Johnsons Skandale wie die »Partygate«-Affäre ebenso wie Sunak und Kabinettsmitglieder, die sich noch bewerben dürften. Als »nickende Hunde« verhöhnte Oppositionschef Keir Starmer die Führungsriege. Die Tories als Wackeldackel? Auch dieses Bild muss die Partei rasch loswerden.

© dpa-infocom, dpa:220710-99-971491/4