ATHEN/ANKARA/BRÜSSEL. Trotz internationaler Bemühungen um eine Entschärfung der Migrationskrise lösen neue gefährliche Zwischenfälle Besorgnis aus. So soll die türkische Wasserpolizei in der Ägäis ein griechisches Boot der Küstenwache abgedrängt und dabei riskante Manöver vollführt haben.
Griechische Medien veröffentlichten entsprechende Videoaufnahmen. Ein auf Lesbos stationierter griechischer Wasserpolizist bestätigte der dpa am Samstag den Vorfall vom Vortag. »Die wollten uns rammen«, sagte er.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wies nach Öffnung der Grenzen seines Landes zur EU die Küstenwache an, Migranten nicht mehr mit Booten die Ägäis durchqueren zu lassen. Gemeint ist die Überfahrt nach Griechenland, also in die EU. »Illegale Migranten-Überfahrten durch die Ägäis sind wegen der Risiken nicht erlaubt (...)«, heißt es unter Berufung auf eine Anweisung des Präsidenten in einer Stellungnahme der türkischen Küstenwache. Nach wie vor belagern Migranten allerdings die Landgrenze zu Griechenland.
In dem Text auf ihrer Webseite beschuldigt die türkische Küstenwache Griechenland, Flüchtlingsboote in Gefahr zu bringen. Sie habe am 5. März 97 Migranten von drei Booten gerettet, die von Griechenland halb gesunken zurückgelassen worden seien. Der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis nannte es völlig inakzeptabel, beschuldigt zu werden, Migranten in Zeiten großer Not nicht anständig zu behandeln. »Griechenland hat während der gesamten (Flüchtlings-)Krise seine Menschlichkeit bewiesen.« Das Land habe über Jahre seine Häuser und Herzen für die Flüchtlinge geöffnet.
Die Menschen, die derzeit versuchten, über die griechische Landgrenze im Osten zu gelangen, seien keine Syrer. »Sie haben lange in der Türkei gelebt, die meisten sprechen fließend Türkisch«, so Mitsotakis. Sie würden von der Türkei unterstützt, etwa indem die Regierung den Transfer zur Grenze organisiere.
Nach griechischen Medienberichten unterstützen türkisches Militär und Polizisten Migranten beim Versuch, Griechenlands EU-Außengrenze zu überwinden. Der griechische Staatssender ERT zeigte am Samstag Videos, in denen türkische Soldaten Migranten mit Schlägen und Tritten Richtung Grenze drängen. Zudem sei ein Rauchbomben- und Tränengasregen zu sehen, der von türkischer Seite Richtung griechische Grenzer über den Zaun abgefeuert worden sei.
Für Mitsotakis ist der Flüchtlingspakt gestorben. »Ganz ehrlich? Im Moment ist die Vereinbarung tot«, sagte Mitsotakis in einem Interview des Senders CNN. »Mit was wir es zu tun haben, ist nicht ein Migrations- oder Flüchtlingsproblem. Es ist der bewusste Versuch der Türkei, Flüchtlinge und Migranten als politische Bauernopfer zu benutzen, um die eigenen politischen Interessen zu verfolgen«, sagte Mitsotakis.
Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock forderte eine neue Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei. Mit Blick auf das bisherige EU-Türkei-Abkommen sagte sie der »Rheinischen Post« (Samstag): »Statt dieses gescheiterten Deals brauchen wir ein neues, rechtsstaatlich garantiertes Abkommen, das aus den Fehlern der Vergangenheit lernt.« Es müsse sicherstellen, »dass Menschen gut versorgt sind und die 27 EU-Staaten nicht wie Dominosteine umfallen, wenn Erdogan einmal pustet.«
In einem Flüchtlingspakt mit der EU von 2016 sagte die Türkei zu, gegen illegale Migration vorzugehen. Ankara erhält finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtlinge im Land. Die Türkei hat rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Erdogan dringt jedoch auf weiteres Geld.
Mögliche EU-Zahlungen zur Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei würden nach Angaben von EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn deutlich geringer ausfallen als die bisherige Hilfe. »Viele Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser für Flüchtlinge wurden ja bereits gebaut und müssen nicht noch einmal finanziert werden. Der Bedarf ist also kleiner«, sagte der Österreicher der Tageszeitung »Die Welt« (Samstag).
Zugleich knüpfte Hahn EU-Zahlungen an eine Bedingung: »Wir erwarten, dass die erpresserische Politik Ankaras durch die Entsendung von Flüchtlingen in Richtung EU eingestellt wird. Dann wäre die EU prinzipiell auch künftig bereit, weitere Finanzhilfen zur Unterstützung der Flüchtlinge in der Türkei bereitzustellen.«
Erdogan will Medienberichten zufolge am Montag nach Brüssel reisen. Ziel sei die Lösung der aktuellen Migrationskrise an der griechisch-türkischen Grenze, aber auch eine grundsätzliche Neuausrichtung des Verhältnisses zwischen der EU und der Türkei, so die Zeitung »Die Welt«, die sich auf hohe Brüsseler Diplomatenkreise berief. Erdogan komme auf Einladung von Ratspräsident Michel nach Brüssel, hieß es auch beim staatlichen türkischen Sender TRT.
Weil weiter viele Migranten an der türkisch-griechischen Grenze und an der Ägaisküste ausharren, versärkt die Internationale Organisation für Migration (IOM) ihre humanitäre Hilfe. Am Samstag und Sonntag will sie dort 20 000 Hilfsgüter wie Decken und Kleidungsstücke verteilen. Außerdem sei zusätzliches Personal in die Grenzregionen entsandt worden.
Wie viele Flüchtlinge und andere Migranten eine Woche nach der einseitigen Öffnung der Grenzen des Landes zur EU weiterhin dort sind oder dorthin wollen, ist unbekannt. Die IOM spricht von »Tausenden ungeschützten Migranten«, die in rauen Bedingungen übernachten müssten und keinen guten Zugang zu Nahrungsmitteln, Obdach und Sanitäranlagen hätten.
Die internationale Krisendiplomatie läuft weiter auf Hochtouren. Erdogan sagte nach türkischen Angaben in einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die »Regelungen zur Migration zwischen der EU und der Türkei« nicht funktionierten und überarbeitet werden müssten.
Am Donnerstagabend hatten sich Erdogan und Putin auf eine Waffenruhe in der nordsyrischen Rebellenhochburg Idlib geeinigt. Dort war die Lage eskaliert, Hunderttausende Menschen waren auf der Flucht Richtung türkische Grenze. Das hatte in der Türkei, die bereits Millionen Syrer beherbergt, große Sorgen ausgelöst. In einer Reaktion hatte Erdogan am Samstag die Grenzen des Landes für Flüchtlinge für geöffnet erklärt. Tausende hatten sich daraufhin auf den Weg vor allem an die türkisch-griechische Grenze gemacht. (dpa)